Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
sauber. In der Schule waren die Lehrer in Hochstimmung, und der Direktor hielt eine Rede über die Größe der tschechischen Geschichte, die Auflösung der verhassten Habsburger Monarchie, den siegreichen Kampf um die Freiheit und vielversprechende Zukunft, die vor uns lag. Am Nachmittag marschierten wir in einen Park, um eine Linde zu pflanzen: eine Linde der Freiheit. 20
Kurz vor dem Weihnachtsfest kehrte Masaryk von seiner triumphalen diplomatischen Mission zurück, um sich neuen Aufgaben in Prag zu stellen. Auf der Fahrt in einem offenen Wagen vom Bahnhof zur Burg brachte ihm die frisch aufgestellte Militärkapelle der Republik ein Ständchen, und die begeisterten Menschen überschütteten
ihn mit Hochrufen. Der betagte Präsident mit dem schneeweißen Bart und der altmodischen Brille antwortete mit einem leutseligen Winken. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung hatte sein Land die Freiheit errungen, es hatte sogar bereits eine Nationalhymne, oder genauer zwei (»Wo ist meine Heimat?« für die Tschechen und für die Slowaken »Über der Tatra blitzt es«). Der Traum der Unabhängigkeit war wahr geworden. Es blieb allerdings die quälende Frage: Was jetzt?
D ie Grenzen der Tschechoslowakei wurden 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz festgelegt, aber erst nach einem langwierigen Tauziehen. Masaryk und Edvard Beneš, sein 35-jähriger Außenminister, nahmen die Verhandlungen mit dem offensichtlichen Vorteil auf, dass Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg verloren hatten. Nimmt man den Ruhm der Tschechoslowakischen Legion und Masaryks persönliches Ansehen hinzu, so sicherte ihnen dies eine faire Anhörung. Wie die britische Historikerin Margaret MacMillan schreibt:
Beneš und Masaryk zeigten sich unfehlbar kooperativ, vernünftig und überzeugend, als sie die tief verwurzelten, tschechischen demokratischen Traditionen und ihre Abneigung gegen Militarismus, Oligarchie und Hochfinanz hervorhoben, im Grunde gegen alles, wofür Deutschland und Österreich-Ungarn gestanden hatten. 21
Am 5. Februar 1919 erhob sich Beneš, um seine Sichtweise bezüglich der Nordgrenze des Landes darzulegen. Vor ihm hatte der eloquente Delegierte aus Polen das Wort gehabt, der fünf Stunden lang gesprochen hatte und »um elf Uhr morgens und im 14. Jahrhundert« begonnen hatte, wie ein amerikanischer Beobachter kommentierte. Dann trat Beneš ans Rednerpult, »fing ein Jahrhundert früher an« und sprach eine volle Stunde länger. 22 Er gab sich alle Mühe zu erklären, dass Europa nur dann stabil sein werde, wenn die Tschechoslowakei Grenzen hatte, die verteidigt werden konnten. Er stieß auf wohlwollende Zuhörer, insbesondere unter den Franzosen, die der
deutschen Macht so viele Einschränkungen wie nur möglich auferlegen wollten. Tragischerweise lebten viele Mitteleuropäer zumindest für die Kartographen an ungünstigen Orten. Da im slowakischen Landesteil die Donau teilweise die Südgrenze der neuen Republik bildete, wurden 750 000 Ungarn dem neuen Staat zugeschlagen. Weiter im Osten wurde die Karpathen-Ukraine hinzugefügt, samt einer halben Million Ukrainer. Im Norden kam nach zähen Verhandlungen ein Kompromiss um den kohlereichen Eisenbahnknoten Těšin (deutsch: Teschen) zustande, nach dem die Tschechoslowakei weniger Land als gewünscht erhielt, aber immerhin die Rechtsprechung über 100 000 unglückliche Polen.
Tschechoslowakische Republik, 1919–1938
Am Ende bekam der unermüdliche Beneš den größten Teil von dem, was er gewollt hatte: Berge, Wälder und Flüsse trennten das rund 138 000 Quadratkilometer große Gebiet der neuen und zerbrechlichen Republik von ihren Nachbarn. Dennoch waren die Grenzen nur schwer zu verteidigen, nicht zuletzt wegen der Kaulquappen-ähnlichen Form des Staates, der von West nach Ost ausgerichtet war: Böhmen, Mähren, Slowakei und Karpathen-Ukraine. Das 1300 Kilometer lange Land war in Böhmen an der breitesten Stelle nur 250 Kilometer breit, und in der Slowakei und Karpathen-Ukraine nicht einmal halb so breit. Gegnerische Panzer würden sich schwertun, die waldigen Hügel im Norden zu durchdringen, sollte
es ihnen jedoch gelingen, wäre es kein Problem für sie, das Land entzwei zu schneiden. Schlimmer noch: Die Nation wurde von den historischen Rivalen eingegrenzt: im Westen und Norden von Deutschland und im weniger geschützten Süden von Österreich und Ungarn. Wegen des Streits um Těšin waren die Beziehungen zu Polen nunmehr ebenfalls belastet.
Die heikelste Frage
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