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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Sowjetische und deutsche Offiziere trafen sich in der Mitte des Landes, stellten dort Grenzmarkierungen auf und stationierten Wachen, die einander täglich gegenüberstanden, ohne jemals ein Wort zu wechseln. Die neue Grenze riss viele polnische Familien auseinander, darüber hinaus verloren sie jegliche Ansprüche auf der anderen Seite. Ein Flüchtling verglich die Wahl zwischen deutscher oder sowjetischer Herrschaft mit der Entscheidung, ohne Kopfbedeckung im strömenden Regen oder unter einer überlaufenden Dachrinne zu stehen. 27
     
    Ende November versuchten die Sowjets ihre Nordflanke zu sichern, indem sie in Finnland einmarschierten. Sie hofften, die Blitzkriegtaktik ihres Bündnispartners nachzuahmen und den friedlichen Nachbarn binnen zwei Wochen zu besiegen. Tausende von Panzern rollten über die Grenze, wurden jedoch von den Wäldern und Sümpfen gestoppt. Den wagemutigen (und wütenden) Finnen in ihren weißen Tarnuniformen und mit ihrer Erfahrung im Skilanglauf gelang es, die Eindringlinge in Hinterhalte zu locken und ihnen empfindliche Verluste beizubringen. Ohne wirksame Panzerabwehrwaffe erfanden sie eine Angriffswaffe (aus einer Flasche mit brennbarer Flüssigkeit und einer Lunte), die sie nach dem sowjetischen Außenminister nannten: Molotow-Cocktail. Die Invasion zog sich über vier Monate hin, bis sich der Angreifer, der sich eindeutig übernommen hatte, und der zahlenmäßig unterlegene Verteidiger auf einen Waffenstillstand einigten. Finnland überstand den Winterkrieg mit dem Verlust von einem Zehntel des Territoriums und 30 Prozent der Wirtschaftskraft.
    Als sich das Jahr 1939 dem Ende zuneigte, verdarb das triste britische Wetter den Menschen die Stimmung: Ein Dauerregen tränkte im Dezember das Land, gefolgt vom kältesten Januar seit über 40 Jahren. Die Themse fror zu. Schwere Schneefälle verzögerten die Kohlelieferungen und ließen jede Wegstrecke zu einem Abenteuer werden. Chamberlain hatte Churchill in das Kriegskabinett gerufen, ein ermunternder Schritt, aber zugleich eine Maßnahme, die den Effekt hatte, dass die kritische Stimme der Falken im Parlament verstummte.
    Jeden Tag wurden die wenigen hellen Stunden mit Vorbereitungen verbracht: die neuen Rekruten drillen, Vorräte anlegen, Sandsäcke füllen und weitere, noch abschreckendere Hindernisse gegen einen Angriff errichteten. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals gaben sich die Franzosen damit zufrieden, sich hinter ihren Befestigungsanlagen zu verschanzen, und unternahmen nichts weiter gegen die Deutschen. Die deutsche Luftwaffe flog Aufklärungseinsätze; die RAF warf ihrerseits Flugblätter ab. Auf See kam es zu einzelnen Scharmützeln, aber im Großen und Ganzen blieb es an der Westfront ruhig. Als es wärmer wurde und die Narzissen blühten, hob sich auch die Stimmung; womöglich war das Schlimmste bereits vorüber.
In einer forschen Rede vor dem Unterhaus kündigte Chamberlain an, dass die britischen Streitkräfte große Fortschritte gemacht hätten. Er sei inzwischen, sagte er Anfang April, »zehn Mal so siegessicher«, und behauptete, die Deutschen hätten es versäumt, zur rechten Zeit zuzuschlagen. »Eines steht fest«, verkündete er, »Herr Hitler hat den Bus verpasst.« 28
    Kaum eine Verlautbarung dürfte kurzlebiger gewesen sein. Wenige Tage nach den prahlerischen Sprüchen Chamberlains hatten die Deutschen die Hauptstadt, die wichtigsten Häfen und Flugplätze Norwegens besetzt. Die völlig überrumpelten Briten versuchten, mit einem Expeditionskorps zurückzuschlagen, das an mehreren Punkten entlang der norwegischen Küste landete. Die Soldaten waren jedoch für den Kampf im Schnee schlecht gerüstet und wurden durch eine desorganisierte Befehlskette behindert. Zudem mussten sie deutsche Einheiten angreifen, die sich gut verschanzt hatten und massiv aus der Luft unterstützt wurden. Von all diesen Dingen berichtete das Kriegsministerium jedoch nichts, vielmehr stellten sie die Abwehroperation als einen erstaunlichen Erfolg dar. Diese falschen Meldungen sollten die Moral heben und weckten tatsächlich große Hoffnungen; aber der kurze Geschmack des Sieges machte es nur noch schwerer, sich der Wahrheit zu stellen.
    Am 2. Mai 1940 trat Chamberlain nicht ganz so forsch vor das Unterhaus, mitsamt der Nachricht, dass die britischen Truppen, da sie es nicht geschafft hatten, den Feind zu vertreiben, wiederum abgezogen würden. Die Opposition forderte empört eine Untersuchung der Kriegführung, was fünf Tage später

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