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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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festgelegten Zeitplan ans Mikrofon, sondern war mehrmals in der Woche zu hören, meist in den nächtlichen Kommentaren. Diese behandelten in der Regel entweder patriotische Themen (wie den Geburtstag T. G. Masaryks) oder Beiträge zu aktuellen Ereignissen, wie die jüngsten Reden von Hitler oder Roosevelt. Weil mein Vater fließend Serbokroatisch sprach und die dortige Kultur gut kannte, sendete er auch nach Jugoslawien. Er arbeitete zum einen aus Liebe zur Demokratie,
aber auch weil wir Geld brauchten. Je mehr er schrieb, desto mehr wurde ihm gezahlt, was immer noch nicht gerade üppig war. Von Anfang bis zum Ende musste sich die Exilregierung auf das Wesentliche beschränken.
    Diese mitternächtlichen Sendungen sollten dem entsprechen, was wir heute »eine schnelle Reaktion« nennen würden. Agenten für die Rundfunksendungen in Prag und Bratislava wurden aufgefordert, jeden Abend über die aktuelle NS-Propaganda zu berichten. Wenn möglich wurde das Dementi Londons binnen weniger Stunden ausgestrahlt. Das hieß wiederum, schneller als sonst zu schreiben, zu übersetzen und zu überprüfen, ein Vorgang, der häufig völlig reibungslos verlief, mitunter aber auch ins Stottern geriet. Der britische Zensor zum Beispiel ging allen auf die Nerven. Als die Sendung am 23. November 1942 begann, ging er rückwärts in Richtung seines Stuhls und setzte sich, einem späteren Bericht zufolge, »in die leere Luft«. Die schmähliche Landung auf dem Hintern wurde von den Tschechen und Slowaken mit »zurückhaltender Begeisterung« begrüßt. 24 Dieser Streich illustriert, auch wenn er ein wenig infantil war, welche Spannung zwischen den beiden Kulturkreisen bestand. Die Briten meinten, sie hätten das Recht zu diktieren, was über ihre Einrichtungen verbreitet wurde. Die Exilanten, angefangen bei Beneš, schäumten immer noch vor Wut über München und verloren die Geduld mit Chamberlains Außenpolitik. Allerdings blieb ihnen nichts Anderes übrig, als die Rolle des Juniorpartners zu akzeptieren. Als sich der mitfühlende H. G. Wells wegen der Produktion von mehreren Rundfunksendungen, die sich kritisch mit dem Münchner Abkommen auseinandersetzen sollten, an meinen Vater wandte, musste der aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten seiner Gastgeber höflich ablehnen.
    Es war auch die Aufgabe meines Vaters zu entscheiden, wer von den vielen tschechoslowakischen Politikern im Exil Sendezeit bekommen sollte. Beneš und Masaryk bekamen Priorität eingeräumt, aber viele untere Beamte sehnten sich nach einer Gelegenheit, sich reden zu hören. Die Angelegenheit war so heikel, dass ein 30-köpfiges Komitee zur Beratung ernannt wurde. Die Entscheidung war hochpolitisch, weil manche Sprecher stärker Zwietracht säten als
andere, zwischen Demokraten und Kommunisten die Balance gefunden werden musste und weil Beneš unbedingt dafür sorgen wollte, dass die Slowaken sich ernst genommen fühlten. Aus diesem Grund stellte mein Vater Vladimir »Vlado« Clementis, einen slowakischen Kommunisten, ein, damit er ihm bei den Sendungen zur Hand ging. Ich erinnere mich noch gut an Clementis, aus Gründen, auf die ich später näher eingehe, aber auch weil er auf der Stirn eine vorspringende Beule hatte. Einmal erfuhr ich, eine Stahlplatte sei der Grund dafür. Warum eine Stahlplatte? Das schien niemand zu wissen. Man sollte darauf hinweisen, dass der Wunsch nach Ausgewogenheit bei der Wahl der Sprecher nicht für das Geschlecht galt. Mein Vater regte zwar an, dass man doch auch Frauen zu Wort kommen lassen könnte, doch der Gedanke wurde fallen gelassen, aus Angst, dass weibliche Stimmen womöglich nicht ernst genommen würden.
     
    B ei Kriegsausbruch war Beneš überzeugt, dass der Westen gewinnen werde. Die Briten waren nicht so siegessicher. Am 6. September 1939 schrieb Cadogan in sein Tagebuch: »Wir werden bis zum Letzten kämpfen und vielleicht siegen – aber ich muss gestehen, ich sehe keine Möglichkeit, wie!« 25 Einen Monat später drängte der ehemalige Premierminister David Lloyd George seine Landsleute, mit Hitler Frieden zu schließen. »Die Menschen nennen mich einen Defätisten«, sagte er in einem Interview, »aber ich sage zu ihnen Folgendes: ›Sagt mir doch bitte, wie wir gewinnen können‹.« 26
    Noch im Herbst schlossen die Rote Armee und die Wehrmacht ihre Eroberung Polens ab. Zehntausende von Soldaten, zivilen Beamten, Intellektuellen, Juden, Aristokraten und Geistlichen wurden ermordet und in Massengräber geworfen.

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