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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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in einer Debatte im Parlament gipfelte. Vor seinen Kollegen spielte der Premierminister das aktuelle Fiasko herunter und appellierte an die Einigkeit. Er ließ durchblicken (wie in die Ecke getriebene Führer es im Krieg meist tun), dass jede Kritik nur dem Feind in die Hände spiele. Das war nicht die Botschaft, nach der das Land sich sehnte. Statt eines Eingeständnisses von Fehlern und einem Ruf zu den Waffen gab Chamberlain eine Litanei von Entschuldigungen sowie den Vorschlag zum Besten, dass alle Ruhe bewahren sollten. Vor dem Unterhaus, so undiszipliniert es nun einmal war, brachte er kaum einen vollständigen Satz zustande, ohne dass er unterbrochen oder verspottet wurde.
    Die Debatte zog sich über Stunden hin, erreichte jedoch am frühen Abend ihren Höhepunkt, als ein Abgeordneter aus Chamberlains eigener Partei mit den Worten schloss, die Oliver Cromwell 300 Jahre zuvor dem Parlament gesagt hatte: »Sie haben hier viel zu lange gesessen, für das was Sie angerichtet haben. Gehen Sie, sage ich, und lassen Sie uns in Ruhe. In Gottes Namen, gehen Sie!« Nach dieser verletzenden Erwiderung war Chamberlains Mehrheit so knapp, dass er es für nötig hielt, eine neue Regierung mit einer breiteren Basis zu bilden. Die Opposition stimmte zu, aber unter einer Bedingung: Chamberlain müsse tatsächlich seinen Hut nehmen. Am 10. Mai teilte der Premierminister widerwillig König Georg VI. mit, dass er von seinem Posten zurücktrete. Der König fragte sich hoffnungsvoll, ob sein Nachfolger womöglich Lord Halifax sei. Nein, lautete die Antwort, nicht Halifax, der andere Kandidat.
     
    W inston Churchill war stattlich, untersetzt und 65 Jahre alt. Er hatte schon so gut wie jedes wichtige Amt bekleidet, außer dem des Premierministers und Außenministers. Bei seiner Amtsführung hatten sich Beifall und Spott bislang in etwa die Waage gehalten. Der zweimalige Premierminister Stanley Baldwin beobachtete:
    Als Winston geboren wurde, flogen viele Feen mit ihren Gaben zu seiner Wiege herab – Fantasie, Beredsamkeit, Fleiß und Tatkraft –, und dann kam eine Fee, die sagte: »Niemand hat ein Recht auf so viele Gaben«, hob ihn hoch und schüttelte ihn derart durch, dass ihm trotz all seiner Gaben Urteilsvermögen und Klugheit vorenthalten blieben. 29
    Im Jahr 1915 hatte Churchill in seiner Funktion als Erster Lord der Admiralität den katastrophalen britischen Angriff auf die Halbinsel Gallipoli in den Dardanellen geleitet. In den zwanziger Jahren hatte er als Schatzkanzler verheerende Kürzungen im britischen Verteidigungshaushalt zu verantworten. In den dreißiger Jahren hatte er gegen Gandhi gewettert und sich standhaft gegen jede Lockerung der Kolonialherrschaft in Indien gewehrt. Man konnte sich stets darauf verlassen, dass Churchill die Freiheit mit unvergleichlicher Zähigkeit
verteidigte, vorausgesetzt, die Kandidaten sprachen die richtige Sprache und hatten die richtige Hautfarbe. Aber bei all seinen Fehlern sollte der neue Premierminister schon bald die Anschauungen jener bestätigen, die fest überzeugt sind, dass die Schicksalsgöttin eingreift, wenn der Gang der Ereignisse es erfordert.
    An dem Tag, als Churchill sein neues Amt antrat, griff Deutschland die Niederlande, Luxemburg und Belgien zur Vorbereitung eines Angriffs auf Frankreich an, die lukrativste Beute auf dem europäischen Kontinent. Aus dem Ersten Weltkrieg hatte man unter anderem die Lehre gezogen, dass jeder Angreifer früher oder später wieder zurückgeworfen wird, folglich konnte sich dieses Unternehmen als das Ikarus-Erlebnis Hitlers erweisen. Die Franzosen vertrauten fest auf die Maginot-Linie, genau wie die Briten, deren Politiker häufig in den Genuss einer Sightseeingtour gekommen waren. Kein Mensch ahnte damals, dass die Wehrmacht so schnell die französischen Befestigungsanlagen durchdringen würde, nicht einmal der deutsche General Erwin Rommel, der schreibt:
    Vor uns im fahlen Licht des Mondes liegt die flache Landschaft. Maginotlinie durchbrochen!« Er konnte es kaum fassen, denn 22 Jahre zuvor hatte er gegen denselben Feind gestanden und mit seinen Kameraden einen Sieg nach dem anderen errungen und doch am Ende den Krieg verloren. Und jetzt waren sie durchgebrochen und drangen tief in feindliches Gebiet ein. 30
    Die Deutschen umgingen die stärksten Befestigungsanlagen und konzentrierten ihre Panzer auf die schwächsten Punkte. Panzerverbände, unterstützt von der verheerenden Wirkung der Sturzkampfbomber, oder Stukas, rieben die

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