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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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feindlichen Kräfte sowohl im Norden als auch im Süden auf und stürzten die Franzosen in heillose Verwirrung. Cadogan schrieb am 15. Mai, dass es »ein schrecklicher Tag« gewesen sei. »Weiß nicht, wo das enden wird. Nachrichten immer noch s. schlecht … Jetzt fängt der ›totale Krieg‹ an!« 31
    Noch am selben Nachmittag schickte Churchill den ersten von vielen eindringlichen Briefen an Franklin Roosevelt, in dem er die
leihweise Bereitstellung von Schiffen, Flugzeugen, Munition und Stahl erbat. »Aber Sie, Herr Präsident, erkennen gewiss, dass Stimme und Kraft der Vereinigten Staaten ihr Gewicht verlieren könnten, wenn sie allzu lange zurückgehalten werden.« 32 Der Brief kam in Washington gemeinsam mit einer Warnung von Botschafter Joseph Kennedy an, dass Amerika Gefahr laufe, »in einem Krieg den Kopf hinzuhalten, in dem die Alliierten vermutlich geschlagen werden«. »Wenn wir kämpfen müssen, um unser Leben zu schützen«, riet der Botschafter, »täten wir besser daran, es in unserem eigenen Hinterhof zu tun.« 33
    Churchill fuhr nach Frankreich, um sich selbst einen Überblick über die Lage zu verschaffen; er kehrte entsetzt und schockiert zurück. Zehntausende britische Soldaten hatten den Ärmelkanal überquert, um die Franzosen zu unterstützen. Die Royal Air Force flog täglich Hunderte von Einsätzen. Viele tschechische, slowakische und polnische Soldaten hatten sich zum Kampf gemeldet. Aber Boulogne wurde eingenommen, danach Calais. Der Offizier der französischen Armée de l’Air Antoine de Saint-Exupéry (der Autor von Der kleine Prinz ) verglich die Anstrengungen der Alliierten mit dem Versuch, einen Waldbrand mit Gläsern voller Wasser zu löschen. Die französische Regierung bat Churchill um mehr Flugzeuge, aber die Briten, die bei dem Feldzug über 950 Flugzeuge verloren, wollten keine weiteren Verluste riskieren.
    Jan Stránský stammte aus einer führenden demokratischen Familie der tschechoslowakischen Republik; später sollte er zur Exilregierung stoßen. Im Juli 1939 war er in einem Kohlenlaster aus Prag nach Polen geflüchtet, fand anschließend einen Platz auf einem Schiff nach Marseille und meldete sich bei der französischen Fremdenlegion. Monatelang schliefen er und seine tschechischen Landsleute in dreckigen Baracken voller Ratten und marschierten den ganzen Tag in zerlumpten Uniformen mit ausgebleichten Mützen. Als die Deutschen Ernst machten, bekamen die Freiwilligen endlich Uniformen und wurden nach Norden an die Front verlegt. Dort stießen sie auf
    betrunkene französische Soldaten, die rechts und links desertierten; eine Desorganisation und völliges Chaos; ein fehlendes einheitliches Kommando, einen Mangel an Verpflegung; Patronen, die nicht zu den Gewehren passten; Positionen, die angeblich noch unsere waren, aber schon längst von den Deutschen eingenommen waren … einen Rückzug und neue Gräben auszuheben, noch ein Rückzug und wilde Flucht. 34
    Stránskýs Trupp befehligte einen Lastwagen, den sie Tag und Nacht »auf diesen furchtbar elenden und bombardierten Straßen« fuhren, »mal unter Maschinengewehrfeuer, dann wieder angehalten von der Gendarmerie, die uns für deutsche Fallschirmspringer hielt, und häufig gezwungen, uns den Weg freizukämpfen«. 35
    Während die Deutschen auf Paris vorrückten, stellte sich nur noch die Frage, ob das britische Expeditionskorps und seine Verbündeten für künftige Schlachten gerettet werden konnten. Am 27. Mai war Cadogan schier am Verzweifeln: »Stellung von B. E. F. [Expeditionskorps] geradezu furchtbar, und ich sehe allenfalls für einen winzigen Bruchteil von ihnen Hoffnung.« 36 Der letzte offene Hafen war Dünkirchen. Ein anderer Augenzeuge berichtete:
    Vom Rand des Meeres aus zogen sich in relativ großen Abständen drei lange, dünne schwarze Reihen ins Wasser, die den Eindruck niedriger Wellenbrecher aus Holz erweckten. Das waren die Reihen der Männer, die paarweise einer hinter dem anderen bis weit ins Wasser hinein standen und in Schlangen warteten, bis die Boote kamen, um sie zu den Dampfern und Kriegsschiffen zu bringen, jedes Mal rund zwanzig Mann, die sich mit den letzten Überlebenden füllten. Die Schlangen standen da, starr und fast ebenso regelmäßig, als wäre das so vorgeschrieben. Es gab kein Schlagen, kein Schubsen, nichts von dem Durcheinander, das bei einem Fußballspiel zu sehen ist. 37
    Die historische Evakuierungsoperation bot eine willkommene Erleichterung in diesem so katastrophal

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