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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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unbeschädigt war. 55 Jede Nacht waren Flieger in der Luft und unzählige kamen um, aber die Briten gaben nicht auf. Für die Deutschen nahmen die unerfreulichen Überraschungen kein Ende: Mitte August hatten sie noch angenommen, dass die Jägerflotte Englands auf 450 Flugzeuge geschrumpft sei; in Wirklichkeit hatte die RAF fast doppelt so viele zur Verfügung. Hitlers vermuteter Spaziergang hatte sich als Wanderung in steilem Gelände entpuppt.
    London gehörte nicht zu den Angriffszielen der Luftwaffe, aber am 24. August lasen einige Piloten auf der Suche nach einem Erdöllager, das ein Stück die Themse aufwärts lag, ihre Karten falsch und warfen mehrere Bomben auf das East End der Großstadt ab. Die Kirche von Saint Giles wurde beschädigt und eine Statue von John Milton in die Luft gesprengt. Churchill wusste weder, dass der Angriff ein Irrtum gewesen war, noch dass die betreffenden Piloten getadelt und versetzt wurden. Da er den Angriff für eine internationale Provokation hielt, befahl er Vergeltungsangriffe auf Industrieanlagen
in Berlin. Wegen dichter Wolken und feindlichem Abwehrfeuer verfehlten die britischen Piloten ebenfalls ihre Angriffsziele und trafen stattdessen ein Wohngebiet. Zehn Zivilisten kamen dabei um, zwanzig wurden verwundet. Nunmehr reagierte die deutsche öffentliche Meinung ihrerseits empört. Göring hatte versprochen, dass ihrer Hauptstadt keine Gefahr drohe. Hitler schäumte vor Wut, nutzte aber zugleich die Gunst der Stunde, weil er eine Gelegenheit sah, London unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung zu zerstören. Am 4. September trat er im Rahmen einer sogenannten »Volkskundgebung« in Berlin vor eine Menschenmenge. »Und wenn die britische Luftwaffe zwei- oder drei- oder viertausend Kilogramm Bomben wirft, dann werfen wir jetzt in einer Nacht 150 000, 180 000  … 1 Million Kilogramm. Wenn sie erklären, sie werden unsere Städte in großem Ausmaß angreifen – wir werden ihre Städte ausradieren!« Unter Gejohle und großem Beifall hatte er zuvor höhnisch angemerkt: »Und wenn man in England heute sehr neugierig ist und fragt: ›Ja, warum kommt er denn nicht?‹ Beruhigt euch, er kommt! Man muss nicht immer so neugierig sein!« 56
    Drei Tage danach, am Nachmittag des 7. September 1940, begann der sogenannte »Blitz«, die Luftschlacht über London. Der deutsche Strategiewechsel wurde nicht allein durch den Wunsch nach Vergeltung ausgelöst. Da der Herbst näher rückte und man folglich verstärkt mit heftigen Stürmen und schwerer See rechnen musste, wurde das Zeitfenster für eine Invasion immer enger. Hitler musste einen entscheidenden Schlag landen, und deshalb musste er einen Weg finden, Churchill zu zwingen, mehr Jagdflugzeuge an einem Ort zusammenzuziehen. Was würde sich dafür besser eignen, als den Himmel über Saint Paul und dem Buckinghampalast mit deutschen Bombern einzudecken? Es war noch nicht zu spät – falls die Angreifer nur unbarmherzig genug vorgingen –, um die Widerstandsfähigkeit des Gegners zu brechen.
    Unter Görings Augen stieg von der französischen Ärmelkanalküste aus eine Armada mit über 300 Bombern und 600 Jagdflugzeugen auf eine Höhe von 5000 Metern und jagte in zwei gigantischen Wellen in Richtung England. Die britischen Radarmitarbeiter glaubten ihren Augen kaum. Jede verfügbare Staffel in der
Region erhielt den Befehl auszuschwärmen, die Piloten gingen davon aus, dass sie wie üblich Landeplätze und Geschützbatterien verteidigen mussten. Stattdessen drehten die Bomber und ihre Eskorten abrupt in Richtung London ab. Die Beschützer der Stadt in der Luft waren zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen, auf jedes britische Flugzeug kamen über zehn deutsche.
    Die ersten Bomben trafen das königliche Arsenal in Woolwich, die umliegenden Bahnhöfe und Fabriken, ganze Häuserzüge und Hafenanlagen von Surrey. Ein Augenzeuge beschrieb die Szene:
    Auf einmal gafften wir nach oben. Über den wunderschönen Himmel zogen sich von einem Horizont zum anderen unzählige Kondensstreifen … Dann trafen mit einem dumpfen Donner, der den Boden rings um London erzittern ließ, wenn man darauf stand, die ersten Reihen von Bomben die Hafenanlagen. Gemächlich stiegen gewaltige Pilze aus schwarzem und braunem Rauch, durchsetzt von roten Streifen in den strahlend hellen Himmel auf. Dort hingen sie und dehnten sich langsam aus, denn es ging kein Wind, und die großen Brände darunter fütterten sie mit noch mehr Rauch, während die Stunden

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