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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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vergingen. 57
    So ging es die ganze unruhige Samstagnacht hindurch. Entwarnung wurde um 6.30 Uhr gegeben; zwei Stunden danach begannen die Luftangriffe von neuem. Auf das Rattern der Maschinengewehre folgten ohrenbetäubende Detonationen; Bomben schlugen in Häuser entlang der Straßen Pond und Victoria, in Westminster und im East End ein. Es flammten tausend Brände auf; 430 Menschen kamen um, und mehr als 1600 wurden verwundet. In der nächsten Nacht richtete eine weitere Angriffswelle schwere Schäden an Bahnhöfen und Eisenbahnlinien an; bis zum Morgengrauen forderten die Angriffe Hunderte von Menschenleben.
    Ab dem 7. September bis Ende Oktober griffen an 57 aufeinanderfolgenden Tagen durchschnittlich 200 Bomber London an. Die führende Stadt auf dem Globus war zu einem Schlachtfeld geworden. Große Gebäude existierten nicht mehr. Straßen waren wegen
der unzähligen Scherben unpassierbar geworden. Jeden Morgen huschten Sanitäter um die verkohlten Schlackehaufen, verbanden Überlebende, wählten unter den Schwerverwundeten die mit den größten Chancen aus und versuchten, die Überreste der Nachbarn zur Bestattung zusammenzusuchen. Diese Bemühungen wurden durch Blindgänger noch gefährlicher, die man entweder entschärfen oder vorsichtig entfernen musste. Es gab keinen sicheren Zufluchtsort. Die Bunker, ob sie nun im eigenen Garten oder in öffentlichen Parks errichtet worden waren, boten lediglich Schutz gegen Druckwellen oder Trümmer. Familien, die sich ins Untergeschoss zurückgezogen hatten, wurden häufig von dem Einsturz der darüber liegenden Gebäude erschlagen oder erstickt. In den ersten sechs Wochen wurden 16 000 Gebäude zerstört und weitere 60 000 ernsthaft beschädigt; mehr als 300 000 Menschen wurden obdachlos.
    Bild 44
    Bombardierung der Hafenanlagen von Surrey, 7. September 1940
    Die Londoner erwiesen sich jedoch als ein anpassungsfähiger Menschenschlag. Da sie genau wussten, dass sie unterwegs unter Umständen tagelang irgendwo festsaßen, erschienen Büroangestellte
mit Zahnbürste, Kissen, Decken und Kleidern zum Wechseln bei der Arbeit. Als der Abend näher rückte, begann eine Matratzenparade in Richtung Kellergeschoss, Luftschutzbunker und U-Bahn. Die Wettermeldungen wurden fortan geheim gehalten, also reimten sich die Menschen ihre eigenen Vorhersagen zusammen: Heiterer Himmel hieß ein günstiger Tag für Hitler; klare Vollmondnächte boten ideale Bedingungen für die Bomberpiloten. Die sozialen Unterschiede, welche die britische Gesellschaft prägten, schwanden von einem Moment auf den nächsten, als sich Menschen aus allen Schichten gegenseitig alles Gute wünschten. Trotzige Ladenbesitzer hängten Schilder aus: »Erschüttert, nicht geschlossen« oder »Getroffen, aber nicht geschlossen«. Banken und Postfilialen versprachen »Geschäftszeiten wie üblich«; geschäftstüchtige Straßenmädchen hielten sich ebenfalls an diese Devise.
    Hohe Mitglieder des Foreign Office hatten strenge Anweisung, sich in einen Luftschutzbunker in der Nähe des Berkeley Square zurückzuziehen, sobald die Sirene, der sogenannte »Weeping Willie«, aufheulte. Am Morgen des 13. September saß eine Gruppe renommierter, älterer Männer zusammengekauert und wartete auf die Entwarnung. Stunden vergingen, in denen ihre Arbeit liegen blieb. Plötzlich ertönte ein lautes Klopfen an der Tür. Draußen stand eine tschechische Teenagerin, die einen Brief von Präsident Beneš an das Foreign Office abgeben wollte. Nachdem sie ihren Auftrag ausgeführt hatte, machte sie kehrt und ging ganz gemächlich durch die exponierten Straßen Londons zurück. Wenig später wurde die Weisung, sich unbedingt in den Luftschutzbunker zu begeben, aufgehoben.
     
    Von den Zeitungsjungen bis hin zu Abgeordneten im Unterhaus zerbrachen sich die Briten den Kopfüber die unheilvolle Bedeutung der Angriffe. War dies womöglich die letzte Vorbereitung auf die Invasion? Churchill warnte das Kabinett, dass eine deutsche Streitkraft zusammengezogen wurde; große Konzentrationen feindlicher Schleppkähne seien entlang der französischen Küste gesichtet worden.
    Am 22. September erhielt der Premier einen Anruf von einem ungewöhnlich aufgeregten Franklin Roosevelt. Die Vereinigten Staaten
hatten eine Nachricht erhalten, dass Deutschland einen Überraschungsangriff auf britischem Boden plane. Wann? Noch am selben Tag. Unmittelbar nach Ende des Gesprächs rief Churchill Anthony Eden an, der sich im Südosten Englands nicht weit von

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