Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
wurde von Meldungen seines Geheimdienstes bestätigt, die er pflichtschuldig an Churchill weiterleitete.
Während der Mahlzeit lud der Präsident den Premier ein, den tschechoslowakischen Truppen doch einen Besuch abzustatten. Die Einladung wurde angenommen, und am 19. April fuhr Churchill im Auto zu dem Militärlager, das von Cholmondeley an einen Stütz-punkt
in der Nähe des Kurorts Leamington umgezogen war. Dort inspizierte er die Soldaten, die in ihren besten Uniformen strammstanden und Helme trugen, die wie umgedrehte Suppenschüsseln aussahen. Nach dem Mittagessen drückte Beneš Anthony Eden, inzwischen Außenminister, ein Memorandum in die Hand, das für eine uneingeschränkte Anerkennung der Tschechoslowakei plädierte. Als Churchill sich anschickte zu gehen, ließen die Soldaten mit ihrem starken Akzent den Choral »Rule Britannia!« ertönen. Slawen sind im Allgemeinen begeisterte Sänger, und Churchill bugsierte rasch seinen stattlichen Körper wieder aus dem Wagen und stimmte in den Gesang ein. Am nächsten Tag schickte er Eden eine Notiz: »Ich sehe keinen Grund, weshalb wir den Tschechen die gleiche Anerkennung wie den Polen verweigern sollten.« Eden erwiderte: »Ganz meine Meinung.« 73
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Churchill und Beneš inspizieren tschechoslowakische Truppen
War dies womöglich ein weiterer Schritt in Richtung Demokratie für die Tschechoslowakei? Noch nicht. Ehe er offizielle Schritte unternahm, fühlte sich Eden verpflichtet, Rechtsexperten das Memorandum vorzulegen, die den gegen München gerichteten Ton des
Schreibens für beleidigend hielten und sich von der zentralen Argumentation nicht beeindrucken ließen. Beneš war zurückgetreten, und ein anderer Mann hatte seinen Platz eingenommen; nach welcher Logik wollte das Foreign Office zu der Schlussfolgerung gelangen, er sei noch Präsident? Beneš war selbst Jurist und hätte eigentlich dafür Verständnis haben müssen; aber er ließ nicht locker. Er war damals ohne Frage eine ziemliche Nervensäge. Diese Wahrnehmung wurde von den meisten einflussreichen US-Diplomaten geteilt. Hopkins hatte es abgelehnt, sich während seines Besuchs in London mit Beneš zu treffen, und Kennan vertrat die bizarre Ansicht, dass der Marionettenpräsident Hácha der bessere Staatschef sei. Auf jeden Fall glaubte Kennan nicht, dass man die Tschechoslowakei wiederherstellen würde oder sollte, unabhängig davon, wer den Krieg gewann. Ein weiteres Hindernis ergab sich, als Deutschland im April in Richtung Jugoslawien und Griechenland vorpreschte. Der Einfall barg eine Gefahr für britische Interessen, die in den folgenden zwei Monaten Churchill und Eden ganz in Anspruch nahm. Während London auf Zeit spielte, saß Beneš an seinem Schreibtisch und dachte womöglich über die fünfte Zeile von Kiplings Gedicht nach: »Und wenn du warten kannst und wirst nicht müde …«
Am Samstag, dem 10. Mai 1941, warf die Luftwaffe mehr als 700 Tonnen Bomben über London ab, löste damit mehr als 2000 Brände aus und beschädigte Symbole des Empires wie das Britische Museum, den Tower, das Parlament und die Westminster Abbey. Mehr als 1400 Londoner kamen um. Für die Engländer war dies das grausamste Bombardement des ganzen Krieges.
Unmittelbar danach, um meinen vierten Geburtstag, beschlossen meine Eltern, die Stadt zu verlassen. Zum Glück hatten wir auch einen Ort, wo wir hinfahren konnten. Honza, der Bruder meines Vaters, lebte mit seiner Frau Ola und den Kindern Alena und George in Berkhamsted, nordwestlich von London, in einem stattlichen Haus aus dem 16. Jahrhundert, das von Glyzinien und gelben Rosen umgeben war. Vor Jahren hatte mein Onkel begonnen, zusammen mit Großvater Arnošt Baustoffe und Fertighäuser zu verkaufen. Im Jahr 1937 oder 1938 hatte er für die multinationale Firma, für die sie arbeiteten,
eine Außenstelle in England gegründet. Im Frühjahr 1939 zog die ganze Familie nach. Alena, die drei Jahre älter war als ich, wurde später gesagt, ihre Familie habe wegen des politischen Engagements meines Vaters Prag verlassen. Sie erinnert sich an keine Streitgespräche, aber ich kann mich an laute Auseinandersetzungen zwischen Onkel Honza und meinem Vater erinnern. Vielleicht lag es auch nur an ihrem unterschiedlichen Temperament, oder es handelte sich um die üblichen Streitereien unter Geschwistern. Auf jeden Fall hörte ich in meinem Schlafzimmer über der Küche häufig, wie die beiden Männer spät nachts miteinander stritten, auch wenn ich nicht
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