Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
bekommen wollten. Meine Tante Ola und ihre Kinder Alena und George hatten noch in Prag ihre Taufurkunden erhalten. Ich vermute, dass meine Eltern meinten, das Leben sei für uns leichter, wenn wir als Christen und nicht als Juden erzogen werden. Im Europa des Jahres 1941 braucht man wohl nicht lange nach Gründen für diese Ansicht zu suchen.
Heute werde ich oft gefragt, ob ich die Entscheidung meiner Eltern bedaure: Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Es fällt mir schwer, mir ein anderes Leben vorzustellen als das mir bekannte oder das, was hätte sein können zu vergleichen mit dem, was war und ist. Ich bin ein großer Bewunderer der jüdischen Tradition, fühlte mich aber nie ganz als Teil der Tradition, da ich erst im Alter von 59 Jahren anfing, sie zu pflegen. Wenn ich jetzt mit meinen Enkelkindern Weihnachten und Chanukka feiere, so habe ich allen Grund zur Dankbarkeit dafür, dass meine Herkunft reicher und komplexer ist, als ich gedacht hatte. Dennoch würde ich mir wünschen, dass meine Eltern mir ihre Entscheidung erklärt hätten, sobald ich alt genug war, ihren damaligen Schritt zu verstehen. Ich hätte gerne eine Gelegenheit gehabt, über jeden Aspekt ihrer Überlegungen mit ihnen zu diskutieren. Wann genau trafen sie diese Entscheidung und aus welchen Gründen?
So müßig es auch sein mag, eine so hypothetische Frage zu erörtern, möchte ich noch meine Überzeugung ergänzen, dass meine Eltern (nach allem, was ich über ihre Wertvorstellungen weiß) diese Entscheidung mit Sicherheit vier Jahre später nicht getroffen hätten. Die Welt im Jahr 1945 war eine völlig andere als die im Jahr 1941, ja sie unterschied sich von ihr stärker als jemals zuvor. Die Judenverfolgung war zur Zeit unserer Taufe bereits voll im Gange, doch der Holocaust in seiner ganzen Grausamkeit befand sich noch in der Anfangsphase. Tschechische Juden waren noch nicht in Konzentrationslager deportiert worden, mussten auch noch nicht den gelben Stern tragen. Meine Eltern dürften ihre Entscheidung zum Übertritt als schwierig empfunden haben, trafen sie aber in erster Linie mit Blick auf die nächste Generation ihrer Familie. Gegen Ende des Krieges war der Wunsch, mit der tschechischen statt mit der deutschen Kultur assoziiert zu werden, sicher noch stärker, aber der bewusste Austausch einer jüdischen Identität durch eine christliche wäre kaum vorstellbar – zumindest bei einem Fehlen einer echten religiösen Berufung. Durch die Linse des Holocaust betrachtet, sind die moralischen Konnotationen einer solchen Entscheidung unwiderruflich verändert worden. Vielleicht ist das der eigentliche Grund dafür, dass meine Eltern nie einen geeigneten Moment fanden, um
mit mir über die Entscheidung zu reden, und derartige Gespräche offenbar auch mit anderen vermieden. Vor dem Mord an sechs Millionen Juden hätten sie womöglich die richtigen Worte dafür gefunden; danach waren sie dazu außerstande.
Josef Stalin neigte für gewöhnlich nicht zu Wunschdenken. In der Regel erwartete er vielmehr stets das Schlimmste von anderen; aus diesem Grund initiierte er ja auch den Mord so vieler Genossen. Desto merkwürdiger ist, dass er im Frühjahr 1941 offenbar beschloss, alles durch eine rosarote Brille zu betrachten. Ein Jahr zuvor war er geschockt gewesen über die Geschwindigkeit, mit der Deutschland Frankreich überrollt hatte. Er hatte auf eine ausgeglichene Auseinandersetzung gehofft, nach der beide Seiten ausgeblutet, ihrer Bodenschätze beraubt und reif für den revolutionären Wandel gewesen wären. Stattdessen hatte Hitler sich so siegessicher gefühlt, dass er es mit Großbritannien aufnahm und anschließend in den Balkan einmarschierte. Darüber hinaus standen deutsche Truppen in Nordafrika und hatten allem Anschein nach die Absicht, Ägypten und Kreta zu erobern. Diese Schlachten waren noch im Gange.
Im November des Vorjahres hatte sich der sowjetische Außenminister Molotow in Berlin mit Hitler getroffen. Der »Führer« hatte ihm versichert, dass die Engländer erledigt wären und dass ihre Bemühungen um Vergeltungsschläge wirkungslos verpufften. Er hatte die prahlerischen Worte kaum ausgesprochen, da mussten sich die beiden Politiker wegen eines Bombenangriffs der Alliierten eilends in einen Luftschutzbunker flüchten. Stalin glaubte nicht, dass Hitler etwas gegen die Sowjetunion unternehmen würde, solange er den Sieg in Europa nicht in der Tasche hatte. Die Nazis waren doch wohl nicht so dumm, einen
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