Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
oft zu ihrer Mutter ins Bett, aber dass sie zu Ruthie kam, war schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen.
Fawn antwortete nicht. Schwerfällig wälzte Ruthie sich herum. Die Matratze war warm und feucht.
»Ach, du Scheiße!«, kreischte sie. »Hast du in mein Bett gepinkelt?« Sie befühlte die Matratze. Sie war nass, genau wie der Fleece-Schlafanzug ihrer kleinen Schwester. Fawn hatte die Augen fest geschlossen und tat so, als schliefe sie. Ruthie knuffte sie in die Seite und versuchte sie aus dem Bett zu schieben.
»Geh und weck Mom!«, befahl sie.
Fawn drehte sich auf den Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben. »Gehnnch«, murmelte sie.
»Was?«, fragte Ruthie und rollte ihre Schwester zu sich herum.
»Ich hab gesagt, das geht nicht.« Fawns Gesicht war rot und verschwitzt. Der Uringeruch stieg Ruthie scharf in die Nase, so dass ihr Magen einen unangenehmen Satz machte.
»Und wieso nicht?«
»Weil sie nicht da ist. Sie ist weg.«
Ruthie warf über Fawn hinweg einen Blick auf ihren Wecker. Es war halb sieben. Ihre Mutter stand praktisch nie vor sieben Uhr auf, und das Haus verließ sie schon gar nicht so früh. An den meisten Tagen musste sie mindestens drei Tassen Kaffee intus haben, bevor sie auch nur ein Wort über die Lippen brachte.
»Was soll das heißen, weg ?«
Fawn schwieg einen Moment lang, dann sah sie mit großen Augen zu Ruthie auf. »So was kann passieren«, sagte sie.
»Ich glaub’s ja wohl nicht«, murmelte Ruthie und wälzte sich aus dem durchnässten Bett. Als ihre nackten Füße den Boden berührten, war dieser eiskalt. Das Feuer war über Nacht ausgegangen. Sie legte sich einen Pulli um die Schultern und stieg in eine Jogginghose.
Dann marschierte sie den Flur entlang zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Ihr war übel, und als sie aufstoßen musste, schmeckte sie den Schnaps. Sie fragte sich kurz, ob sie vielleicht immer noch ein bisschen betrunken oder high war und deshalb das Gefühl hatte, dass das alles gerade nicht wirklich passierte. Sie legte die Hand an den Türknauf und drehte ihn langsam herum. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter vom Quietschen der Angeln wach wurde. Doch als die Tür sich öffnete, sah Ruthie lediglich das leere, fein säuberlich gemachte Bett.
»Ich hab’s dir doch gesagt«, wisperte Fawn. Sie war hinter Ruthie in den Flur getreten.
»Mach dich sauber und zieh dir was an«, forderte Ruthie sie auf, den Blick auf das unbenutzte Bett ihrer Mutter gerichtet. Sie stand eine Zeitlang leicht schwankend da, während ihre Schwester in ihr eigenes Zimmer huschte.
»Was soll der Mist?«, fragte sie. Es war sechs Uhr dreißig. Wo steckte ihre Mutter?
Sie ging die schmale Holztreppe nach unten und zählte dabei die Stufen, wie sie es schon als Kind immer getan hatte. Das brachte Glück. Es waren dreizehn, aber die unterste zählte sie nie mit. Sie übersprang sie einfach und tat so, als gäbe es sie gar nicht, damit am Ende eine schöne, gerade Zwölf herauskam.
»Mom?«, rief sie. Auf dem Küchentisch stand immer noch die volle Teetasse. Als Ruthie ins Wohnzimmer ging, stellte sie fest, dass die Scheite, die sie in der Nacht in den Ofen gelegt hatte, nicht gebrannt hatten. Es war ein großer Specksteinofen unmittelbar neben dem alten gemauerten Kamin. Der Ofen war ihre einzige Wärmequelle – ihre Eltern weigerten sich, Geld für fossile Brennstoffe auszugeben.
Sie bückte sich, was das Pochen in ihrem Kopf noch schlimmer machte, nahm die Scheite heraus und fegte die Asche in die Büchse neben dem Ofen. Dann fing sie noch mal ganz von vorn an: zerknüllte Zeitung, Pappe, Reisig. Sie riss ein Streichholz an, und die Flammen erwachten knisternd zum Leben. Sie legte einige kleinere Holzstücke obendrauf, dann ein trockenes Scheit. Sobald es brannte, schichtete sie das Holz von der letzten Nacht wieder darüber und schloss die gläserne Ofentür.
Fawn kam die Treppe heruntergetapst. Sie trug eine rote Cordlatzhose, einen roten Rollkragenpulli und an den Füßen dicke Wollsocken, die ihre Mutter gestrickt hatte. Selbstverständlich in Rot.
»Ganz schön monochrom«, meinte Ruthie.
»Hä?«, machte Fawn. Ihre Augen sahen ein bisschen merkwürdig aus – glasig und trübe, so wie wenn sie krank war.
»Vergiss es«, sagte Ruthie und starrte ihre seltsame kleine Schwester an.
Fawn war zu Hause auf die Welt gekommen, mit einer Hebamme, genau wie Ruthie.
Ruthie war bis zur dritten Klasse zu Hause unterrichtet worden. Erst dann hatten ihre Eltern, durch Ruthies
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