Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Nimmerwiedersehen zu verschwinden? Sich von einem auf den anderen Moment in Luft aufzulösen?
So was kann passieren , hatte Fawn gesagt.
Ruthie schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht an so was. Die Leute verschwanden nicht einfach so mir nichts, dir nichts von der Bildfläche. Nicht Willa Luce, und garantiert nicht die langweilige alte Alice Washburne, die zwei Töchter zu Hause hatte und Hühner, die gefüttert werden mussten, und die nur zweimal pro Woche in die Stadt ging: samstags morgens zum Bauernmarkt und mittwochs zum Einkaufen, weil dann die Rabattcoupons im Shop and Save doppelt zählten.
Eins war klar: Das alles konnte nur ein riesiges Missverständnis sein. Ihre Mutter würde jeden Moment wieder auftauchen, und dann würden sie sich bei dem bloßen Gedanken daran, dass jemand wie sie einfach so spurlos verschwunden sein könnte, vor Lachen die Bäuche halten.
Ruthie
Ruthie verbrachte fast eine Stunde damit, das Haus, den Hof und die Scheune abzusuchen, fand jedoch keinen Hinweis darauf, wo ihre Mutter hätte sein können. Ihre Stiefel und ihr Anorak waren weg, aber der Pick-up stand noch in der Scheune, die Schlüssel klemmten hinter der Sonnenblende. Es gab keine Fußspuren im Schnee. (Obwohl es durchaus denkbar war, dass es welche gegeben hatte, die nun unter dem Neuschnee begraben waren.)
Ruthie stand in der Scheune und blickte ratlos auf den kaputten Aufsitzrasenmäher, einen Stapel Sommerreifen, die Fliegentüren, Fensterrahmen, Säcke mit Hühnerfutter. Nichts war anders als sonst. Alles schien ganz normal.
Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie ihre Mutter in einem ihrer grobgestrickten Pullover, die grauen Haare zu einem Zopf geflochten, sie über den Rand ihrer in der Drogerie gekauften Fertigbrille hinweg musterte. »Der Trick, wenn man einen verlorenen Gegenstand wiederfinden will«, hatte sie Ruthie einmal anvertraut, »ist der, dass man zunächst einmal feststellt, wo er überall nicht ist.«
Die Erinnerung zauberte Ruthie ein kleines Lächeln ins Gesicht. »Also gut. Stellen wir fest, wo du nicht bist.«
Sie ging bis ans hintere Ende der Scheune, um nach den Hühnern zu sehen. Sie waren in einem großen hölzernen Hühnerhaus mit einem Auslauf aus Maschendraht untergebracht. Sie entriegelte die Tür, betrat den Auslauf und öffnete das Hühnerhaus.
»Na, Mädels«, sagte sie mit leiser, beruhigender Stimme. »Wie war eure Nacht?« Die Hühner gackerten nervös. Ruthie warf ihnen eine Handvoll Maisschrot aus dem Eimer vor dem Gehege hin und kontrollierte, ob die Futterschalen und beheizten Tränken noch gefüllt waren.
»Ihr habt nicht zufällig gesehen, wo Mom hingegangen ist, oder?« Mehr Gegacker.
»Dachte ich mir«, sagte Ruthie und ging rückwärts aus dem Stall.
Sie verließ die Scheune, stand auf dem Hof und blickte suchend zum Wald. In der Nacht hatte es noch mehr geschneit, und der unter dem Schnee begrabene Hof sah aus wie eine weiße Mondlandschaft.
Im Kopf hakte Ruthie all die Orte ab, an denen ihre Mutter nicht war: Haus, Hof, Scheune, Hühnerstall. Und mit dem Pick-up war sie auch nicht weggefahren.
»Mom!«, rief sie, so laut sie konnte. Albern. Die verschneite Landschaft schien jedes Geräusch zu schlucken; sie hatte das Gefühl, als würde sie in ein Wattepolster schreien.
Erneut blickte Ruthie dorthin, wo der Wald begann. Die Vorstellung, ihre Mutter könnte mitten im Winter nachts in den Wald gegangen sein, war völlig absurd – soweit Ruthie wusste, setzte ihre Mutter überhaupt nie einen Fuß dort hinein. Sie hatte für sämtliche Arbeiten auf dem Hof ihre festgelegte Route – einen Pfad zwischen Holzstoß, Scheune, Hühnerstall und dem Komposthaufen neben dem Gemüsegarten –, von der sie niemals abwich. Ihre Mutter legte viel Wert auf Effizienz. Von der Routine abzuweichen, einen Abstecher zu machen, ohne Grund spazieren zu gehen – all das hätte unnötig Zeit und Energie gekostet, die man besser darauf verwenden konnte, für ausreichend Nahrung und Wärme zu sorgen.
Trotzdem, es war besser, alle Möglichkeiten auszuschließen, wie unwahrscheinlich sie Ruthie auch vorkamen.
Sie ging zurück in die Scheune, schnappte sich ein Paar Schneeschuhe und schnallte sie sich an.
Langsam und widerstrebend überquerte sie den Hof und stapfte los in Richtung Wald. Ob es ihr gefiel oder nicht: Sie musste an dem Ort vorbei, an dem sie ihren Vater gefunden hatte.
Früher war die Gegend nordöstlich des Hauses und der Scheune offenes Ackerland
Weitere Kostenlose Bücher