Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
und er einmal weit draußen hinter der Bemis-Farm gesehen hatten. Ein seltsames pulsierendes Licht. Zuerst sei es oben bei den Felsen gewesen und dann runter zum Maisfeld gewandert. Und dann, behauptete Buzz, hätten sie eine kleine bleiche Gestalt durch die Maisstauden schweben sehen – mit Bewegungen, die viel zu flink und sprunghaft waren, als dass es ein Mensch hätte sein können.
»Ich weiß, was ich gesehen hab«, beteuerte Buzz. »Das war ein Außerirdischer. Ein Grauer. Tracer war dabei – er hat’s auch gesehen. Er war ziemlich klein, eins zwanzig oder so, und er hatte ein langes Gewand an, das beim Gehen hinter ihm hergeflattert ist. Jede Wette, dass der die Schafe und die Kuh geholt hat. Sie benutzen die Tiere für ihre Experimente – sie lassen sie ausbluten und entfernen ihnen mit chirurgischer Präzision die Organe –, das kann kein Raubtier gewesen sein.«
Tracer war eigentlich ganz in Ordnung, auch wenn Ruthie nicht begriff, wie ein Mensch, der so viel Gras rauchte, im Alltag überhaupt funktionieren konnte. Es wunderte sie nicht, dass ihm und Buzz ein kleiner grauer Alien begegnet war, nachdem sie in Buzz’ Pick-up eine Bong durchgezogen hatten.
Aber auch ohne Buzz’ Gerede von Außerirdischen kursierten genügend unheimliche Geschichten über den Wald und die Teufelshand.
»Oh, oh«, sagte Buzz, als sie den Anfang von Ruthies Einfahrt erreicht hatten.
»Na toll«, brummelte Ruthie. Als sie den Kopf hob, sah sie durch die vorhanglosen Fenster von Küche und Wohnzimmer Licht nach draußen scheinen. Beide Zimmer waren hell erleuchtet. Ihre Mutter war also doch noch wach. Ruthie griff erneut in ihre Parka-Tasche, tastete nach der Rolle Pfefferminzbonbons und kaute drei Stück auf einmal. Dann schob sie ihren Ärmel hoch, drückte den Knopf an ihrer großen Digitaluhr und versuchte blinzelnd das Display zu lesen. 01 : 12 , 2 . JAN . Sie war so was von fällig.
Sie lehnte sich zu Buzz hinüber und gab ihm einen feuchten Kuss. Er schmeckte nach Gras und Schnaps. »Wünsch mir Glück«, sagte sie.
»Glück«, erwiderte er augenzwinkernd. »Ruf mich morgen an und erzähl mir, was für eine Strafe sie dir aufgebrummt hat.«
Ruthie öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen. Ihre Stiefel versanken in zehn Zentimetern Neuschnee. Langsam und mit der erhöhten Vorsicht einer Betrunkenen, die sich krampfhaft bemüht, nicht zu torkeln, ging sie in Richtung Haus. Sie atmete tief die kalte, nach Holzrauch riechende Luft ein, damit sie wieder ein bisschen klarer im Kopf wurde. Sie hätte nach dem Bier nicht noch so viel Schnaps trinken sollen. Emilys Killer-Gras hatte ihr dann den Rest gegeben. Sie schlug sich mit den behandschuhten Händen ins Gesicht. Werd nüchtern. Werd nüchtern. Werd nüchtern.
Ihre Mutter würde sie in der Luft zerreißen. Sie würde Hausarrest bekommen. Buzz einen Monat lang nicht sehen dürfen.
Sie behielt die Fenster im Auge, während sie auf wackligen Beinen den Rest des Weges zur Haustür stapfte. Drinnen regte sich nichts. Es war absolut undenkbar, dass ihre Mutter ins Bett gegangen war, ohne das Licht auszuschalten – Stromverschwendung war in ihrem Haushalt ein schweres Vergehen.
Ruthie holte ein letztes Mal tief Luft, öffnete langsam die Haustür, trat in den Eingangsflur und schloss die Tür leise hinter sich. Dann machte sie sich auf den Anschlag gefasst. Doch es erschien keine Mutter, um ihr Vorhaltungen zu machen. So weit, so gut.
Sie stand ganz still da und lauschte.
Keine Schritte. Kein Hast du eine Ahnung, wie spät es ist, Fräulein? Nur das schlafende Haus.
Ruthie schlüpfte aus ihrem Parka, kickte sich die Stiefel von den Füßen und stellte sie neben die anderen auf die Schuhablage. Dann schleppte sie sich in die Küche, goss sich ein Glas Wasser ein und kippte es, an den Tresen gelehnt, in einem Zug hinunter. Sie blinzelte im grellen Licht.
Die Teller vom Abendbrot waren gespült und weggeräumt, aber auf dem Tisch stand eine volle Tasse Tee. Ruthie berührte sie mit den Fingerspitzen. Eiskalt. Daneben stand ein Teller mit einem Stück Apfelkuchen, von dem ein Bissen fehlte. Die Gabel lag daneben auf dem Teller. Ruthie war niemand, der ein Stück vom selbstgebackenen Kuchen ihrer Mutter verschmäht hätte. Sie schlang ihn hinunter und stellte danach den Teller in die Spüle.
Sie knipste das Licht in der Küche aus und ging weiter ins Wohnzimmer, um dort ebenfalls das Licht auszumachen. Sie warf einen Blick in den Ofen, in dem das Feuer bis auf die
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