Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
gewesen, mittlerweile jedoch wuchsen hier Pappeln, Ahornbäume und ein kleiner Bestand von Zirbelkiefern. Im Laufe der Jahre war der Wald immer näher an den Hof herangerückt und drohte ihr kleines weißes Farmhaus zu umzingeln. Die Bäume standen dicht, und es war schwer, sich einen Weg zu bahnen. Der Pfad war ein Gewirr aus Wurzeln, Schösslingen und großen Steinen, die aus dem Schnee ragten und an denen Ruthie mit ihren Schneeschuhen hängen blieb. Das ganze Land war steinig. Ruthie staunte jedes Frühjahr, wie viele Steine auf dem Hof und im Garten auftauchten. Unzählige Schubkarrenladungen voll, die sie im Wald auskippten oder auf die Steinmauer schütteten, die sich am östlichen Rand des Hofs entlangzog.
Ruthie hatte den Wald immer gehasst und war selbst als Kind nur selten dort gewesen. Damals hatte sie fest daran geglaubt, dass Hexen und Ungeheuer darin hausten; dass es ein gruseliger, verzauberter Märchenwald war.
Ihre Eltern waren in der Sache nicht gerade hilfreich gewesen. Sie hatten die Ängste ihrer Tochter sogar noch weiter geschürt, indem sie Geschichten über Wölfe und Bären erzählten und über all die schrecklichen Dinge, die kleinen Mädchen zustoßen konnten, die sich im Wald verirrten.
»Könnte es auch sein, dass ich gefressen werde?«, hatte Ruthie wissen wollen.
»Oh ja«, hatte ihre Mutter geantwortet. »Im Wald gibt es Geschöpfe mit grässlichen Zähnen. Und weißt du, worauf die am meisten Appetit haben?«, fragte sie mit einem Lächeln und nahm Ruthies Hand. »Auf kleine Mädchen.« Dann biss sie sanft in Ruthies Finger.
Ruthie fing an zu weinen, und ihre Mutter nahm sie fest in den Arm.
»Bleib auf dem Hof, dann kann dir nichts passieren«, versprach sie, während sie Ruthie die Tränen wegwischte.
Und hatte sich Ruthie nicht wirklich einmal im Wald verirrt, als sie noch sehr klein gewesen war? Es fiel ihr schwer, sich die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Sie wusste noch, dass sie an einem kalten dunklen Ort gewesen war und dort etwas so Entsetzliches gesehen hatte, dass sie es nicht über sich gebracht hatte, hinzuschauen. Hatte sie dort nicht auch etwas verloren? Oder war ihr etwas gestohlen worden? Das Einzige, woran sie sich noch mit einiger Gewissheit erinnerte, war, dass ihr Vater sie gefunden und nach Hause getragen hatte. Sie hatte in seinen Armen gelegen, das Kinn an der kratzigen Wolle seines Mantels gerieben und zum Hügel und den Felsen zurückgeschaut, während sie sich mit raschen Schritten entfernten.
»Das war nur ein schlimmer Traum«, hatte ihr Vater später gesagt, als sie wieder zu Hause waren. Er hatte ihr übers Haar gestrichen, und ihre Mutter hatte ihr eine Tasse Kräutertee gemacht, der blumig duftete, aber seltsam nach Arznei schmeckte. Sie hatten in seinem Arbeitszimmer gesessen, in dem es nach alten Büchern, Leder und nasser Wolle roch. »Nur ein schlimmer Traum. Jetzt bist du in Sicherheit.«
Die Schneeschuhe glitten über die Schneedecke dahin, als Ruthie den überwucherten Acker hinter der Scheune überquerte und den selten benutzten Trampelpfad fand, der den Hügel hinauf bis zur Teufelshand führte. Sie holte tief Luft und wagte sich zwischen die Bäume, wo sie dem schmalen Pfad weiter folgte. Sie war erstaunt, wie leicht dies war – aus unerfindlichen Gründen war er nicht zugewachsen. Sträucher und Äste waren erst kürzlich zurückgeschnitten worden. Aber wer sollte das gewesen sein? Garantiert nicht Ruthies Mutter.
Aufmerksam hielt sie rechts und links vom Pfad Ausschau nach dem orangefarbenen Anorak ihrer Mutter, nach Fußspuren oder anderen Hinweisen. Sie fand nichts.
Ruthie stapfte weiter, setzte beharrlich einen Fuß vor den anderen. Sie glitt lautlos über den Schnee. Der Weg wurde steiler. Auf einem Ahornbaum in der Nähe schnatterte ein Eichhörnchen eine Warnung. Aus der Ferne war das Klopfen eines Spechts zu hören.
Es kam ihr verrückt vor, so früh am Morgen durch den Wald zu laufen, noch dazu mit einem Kater und nach nicht mal fünf Stunden Schlaf. Am liebsten wäre sie umgekehrt und malte sich aus, wie sie genau das tat: wie sie nach Hause kam und ihre Mutter wohlbehalten in der warmen Küche saß, wo sie mit einer Tasse Kaffee und Zimtschnecken im Ofen auf Ruthie wartete.
Doch ihre Mutter wartete nicht zu Hause auf sie. Ruthie dachte an Fawn, die ihre große Schwester fragen würde: »Hast du Mom gefunden?« Spätestens jetzt wurde ihr klar, dass sie weitersuchen musste. Sie konnte erst dann zu Fawn
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