Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
zurückkehren, wenn sie überall gesucht hatte, auch oben bei der Teufelshand.
Etwa zehn Minuten lang folgte Ruthie dem ansteigenden Pfad, bis sie zu der verlassenen Obstwiese kam. Reihe um Reihe Apfel- und Birnbäume standen hier. Sie waren schief und knorrig, mit verwachsenen Ästen und gebeugt wie Greise mit Umhängen aus Schnee. Wo einst schnurgerade Wege zwischen den Obstbaumreihen entlanggeführt hatten, wuchsen nun Dorngestrüpp und dünne Pappelschösslinge. Eine Zeitlang hatte Ruthies Vater versucht, die Obstwiese neu zu kultivieren. Er hatte sorgsam jeden Baum beschnitten und gegen Insekten und Mehltau gesprüht, doch die wenigen Früchte, die die Bäume trugen, waren verformt und so bitter, dass man sie unmöglich essen konnte. Sie fielen herunter und verfaulten am Boden, wo sie als Futter für die Rehe oder Bären dienten, die es hin und wieder in die Gegend verschlug.
Sie blieb stehen, um zu verschnaufen, und hatte plötzlich das Gefühl, nicht allein zu sein.
»Mom?«, rief sie erneut. Ihre Stimme klang schrill.
Sie ließ den Blick suchend durch die Baumreihen schweifen, um zu sehen, ob sich irgendwo etwas bewegte.
Als einem der Apfelbäume eine Ladung Schnee von den Zweigen rutschte, zuckte Ruthie zusammen. Hatte sich da nicht noch etwas anderes bewegt, irgendwo im Schatten? Sie wartete mit angehaltenem Atem. Die Stille klingelte ihr in den Ohren. Wo waren die Vögel und die Eichhörnchen?
Es gab weit und breit keine einzige Tierspur – nicht mal von einem Schneeschuhhasen, einer Meise oder einer Feldmaus. Es war, als wäre Ruthie mutterseelenallein auf der Welt.
Ruthie erlaubte sich nicht oft, an das zu denken, was mit ihrem Vater passiert war.
Etwa zwei Jahre zuvor war ihr Vater in den Wald gegangen, um Feuerholz zu schneiden. Er war nicht zum Abendessen zurückgekommen, und bei Einbruch der Dunkelheit hatte Ruthie sich auf den Weg gemacht, um ihn zu suchen.
»Euer zerstreuter alter Vater hat die Zeit vergessen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Offenbar merkt er nicht einmal mehr, wenn sein Magen knurrt.«
Es war ein nasser Herbst, und der Boden war glitschig von Schlamm und verrottendem Laub. Auf ihrem Weg den Pfad hinauf rutschte Ruthie mehrmals aus, schlug sich das Knie an Steinen und riss sich die Haut an Dornenranken auf.
Sie fand den Vater wenige Minuten nördlich der Obstwiese. Drei Meter von ihm entfernt war der Haufen sauber aufgeschichteter Holzscheite, daneben seine Säge. Er selbst lag auf der Seite, die Axt noch fest in den Händen. Seine Augen waren geöffnet, aber seltsam trübe. Er hatte blaue Lippen.
Ruthie hatte in der Schule einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und versuchte ihn wiederzubeleben, während sie sich gleichzeitig die Lunge aus dem Leib schrie, in der Hoffnung, ihre Stimme möge den weiten Weg bis zum Haus hinuntertragen. Scheinbar stundenlang, auch wenn es in Wirklichkeit vielleicht nur Minuten waren, drückte sie auf seinen Brustkorb, die Ellbogen angewinkelt, halblaut mitzählend – eins- UND -zwei- UND -drei- UND -vier –, so wie sie es im Kurs bei der Plastikpuppe gemacht hatte. Endlich kam ihre Mutter, rannte jedoch gleich wieder davon, um den Notarzt zu alarmieren. Ruthie machte verbissen weiter mit der Herzmassage, bis der Krankenwagen der Freiwilligen Feuerwehr kam. Die Muskeln in ihren Armen und Schultern zitterten, sie hatte keine Kraft mehr, und trotzdem hörte sie nicht auf, bis ihre Mutter sie schließlich sanft von ihrem Vater wegzog.
Erst auf dem Weg von der Lichtung nach Hause fiel es ihr auf: die Stiefelabdrücke ihres Vaters im Schlamm. Neben ihnen verlief eine zweite Spur wesentlich kleinerer Abdrücke.
Später fragte sie Fawn: »Warst du heute bei Daddy oben im Wald?«
Fawn schüttelte heftig den Kopf. Sie hatte ihre Puppe an die Brust gepresst. »Mimi und ich gehen nicht in den Wald. Nie. Wir wollen nicht gefressen werden.«
Als Ruthie jetzt an die Worte ihrer kleinen Schwester und die Warnungen ihrer Mutter von früher dachte, lief ihr ein Schauer über den Rücken.
»Mom?« Ruthies Stimme klang hell wie die eines kleinen Kindes. Sie hatte es eilig, den Obstgarten zu durchqueren, und fiel trotz der Schneeschuhe in einen ungeschickten Trab. Als sie die Apfel- und Birnbäume hinter sich gelassen hatte, ging es weiter bergauf, in den dunklen Wald hinein. Ohne Laub und mit Neuschnee bedeckt, sahen die Buchen, Pappeln und Ahornbäume noch dürrer und knochiger aus als sonst. Sie hatte das untrügliche Gefühl, im Vorbeigehen Blicke aus
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