Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
starrenden Augen auf sich zu spüren.
Ihre Eltern hatten sie immer davor gewarnt, allein hierherzukommen. Zu leicht konnte man sich den Knöchel brechen. Einmal hatte ihr Vater draußen jenseits der Teufelshand einen alten Brunnen entdeckt – einen halb überwucherten runden Schacht aus Steinen, der so tief in die Erde hinabreichte, dass Dad behauptete, er habe nicht bis zum Grund sehen können. »Ich habe einen Stein reingeworfen, und ich schwöre, man konnte nicht hören, wie er unten aufkam.«
Manche sagten, in der Nähe gäbe es eine Höhle, in der eine alte Hexe hauste. In diese Höhle sei 1952 der Junge hineingekrochen und nicht wieder herausgekommen. Als seine Freunde endlich Hilfe geholt hatten und zurückkamen, fanden sie nicht einmal mehr den Eingang – nur glatten Fels, wo zuvor ein Loch gewesen war. Als Willa Luce letzten Monat verschwunden war, hatte ein Suchtrupp den ganzen Wald durchkämmt, jedoch nichts gefunden.
Jeder im Ort kannte irgendeine Geschichte über die Teufelshand, und obwohl sich diese Geschichten in gewissen Einzelheiten voneinander unterschieden, blieb doch eins in jeder Version gleich: Die Teufelshand war ein Ort des Bösen, und dorthin zu gehen brachte Unglück. Jugendliche machten hin und wieder eine Mutprobe daraus, manchmal übernachteten sie sogar dort, ausgerüstet mit ein paar Sixpacks Bier, um sich Mut anzutrinken. Für Buzz und seine Freunde war es ein beliebter Platz, um Gras zu rauchen und nach UFO s Ausschau zu halten.
Ruthies Haut prickelte. Schon wieder dieses Gefühl, als wäre sie nicht allein. Als würde jemand sie beobachten.
»Hallo?«
Es war albern, das wusste sie, aber sie ging trotzdem schneller. Sie wollte mit dem Suchen aufhören können. Bis zu den Felsen würde sie noch gehen und dann umkehren.
Als sie die Teufelshand erreicht hatte, war sie außer Atem, teils wegen des steilen Anstiegs, aber hauptsächlich weil sie sich so sehr beeilt hatte – sie wollte es endlich hinter sich haben.
Die großen dunklen Felsen ragten aus der Erde auf, als wären sie aus ihr emporgewachsen – wie gigantische gezackte Pilzmutationen. Es waren insgesamt fünf Felsen – beziehungsweise fünf Finger –, die leicht nach hinten geneigt waren wie eine geöffnete Hand, die etwas fangen wollte ( oder jemanden , durchfuhr es Ruthie). Die Steine, die die Handfläche bildeten, waren flach und komplett mit Schnee bedeckt, die Finger jedoch schauten ein gutes Stück aus der Schneedecke hervor. Ruthie fand, dass sie weniger wie Finger, sondern eher wie schwarze spitze Zähne aussahen.
Was hast du für große Zähne?
Damit ich dich besser fressen kann.
Sie stand im Schatten des höchsten Steins, des Mittelfingers, und rief ein weiteres Mal nach ihrer Mutter: »Mom!«
Sie wartete und lauschte ihrem eigenen Atem, bis der ihr so laut vorkam, dass sie das Gefühl hatte, der ganze Wald würde mit ihr atmen.
Dann zog Ruthie die Gurte ihrer Schneeschuhe fester und machte sich schleunigst auf den Rückweg zum Haus. Sie stolperte, rutschte und fiel mehrmals in den Schnee; sie lief, so schnell sie konnte, und versuchte das unangenehme Gefühl abzuschütteln, dass ihr etwas auf den Fersen war.
»Ist sie mit dem Pick-up weggefahren?«, wollte Fawn wissen.
Ruthie schüttelte den Kopf. Nachdem sie die Schneeschuhe aufgehängt hatte, war sie ein zweites Mal zum Hühnerstall gegangen und hatte einige Eier aus den Gelegen geholt. Jetzt nahm sie sie vorsichtig aus ihren Taschen und legte sie auf den Küchentresen. Sie fror und war vollkommen geschlaucht. Ihre Beinmuskeln und ihre Lunge brannten wie Feuer nach dem Schneeschuh-Gewaltmarsch über den Hügel.
»Wo kann Mom denn bloß sein?«, fragte Fawn. Ihr Kinn zitterte. Ihre Augen waren wässrig und rund wie die eines Froschs.
»Ich hab keine Ahnung«, musste Ruthie eingestehen.
»Sollten wir nicht besser jemanden anrufen?«, meinte Fawn.
»Wen denn, die Polizei? Ich bin mir ziemlich sicher, dass man einen Erwachsenen erst dann als vermisst melden kann, wenn er seit mindestens vierundzwanzig Stunden verschwunden ist. Mom ist noch nicht mal zwölf Stunden weg. Außerdem würde sie ausflippen, Fawn, das weißt du genau.«
»Aber … es ist so kalt da draußen. Was, wenn sie verletzt ist?«
»Ich hab überall nachgeschaut. Mom ist nicht da draußen, das garantiere ich dir.«
»Und was machen wir dann?«
»Wir warten ab. Ich glaube, das würde sie auch so wollen. Wenn sie bis heute Abend noch nicht zurück ist, können wir immer noch
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