Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
ihre Eltern ihr eröffneten, dass sie bald ein Geschwisterchen bekommen werde. Sie hatte gewusst, dass irgendwas im Busch war – ihre Eltern hatten seit Tagen heimlichtuerisch getan und miteinander getuschelt –, aber mit dieser Neuigkeit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Als kleines Kind hatte sie sich immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, aber war es jetzt dafür nicht zu spät?
»Freust du dich nicht?«, fragte ihre Mutter sie.
»Doch, sicher«, antwortete Ruthie. »Ich bin nur ein bisschen geschockt.«
Ruthies Mutter nickte. »Ich weiß, Schätzchen. Ehrlich gesagt, waren wir selbst ziemlich überrascht. Aber dein Vater und ich wissen, dass es so richtig ist. Dieses Baby gehört hierher, in unsere Familie. Du wirst eine wundervolle große Schwester sein, da bin ich mir ganz sicher.«
Bis zu ihrem Verschwinden war dies das einzig Interessante an ihrer Mutter gewesen: dass sie sich dazu entschlossen hatte, so spät noch einmal ein Kind zu bekommen. Und genau betrachtet, schien das ja eher ein Unfall gewesen zu sein als eine bewusste Entscheidung.
»Ich mag nicht hier drin sein, wenn Mom nicht da ist«, jammerte Fawn. Sie saß auf dem Bett und befühlte Decken und Kissen. Ruthie tastete derweil die rau verputzten Wände ab. Sie suchte nach verborgenen Öffnungen, fand aber keine.
Wenn sie ehrlich war, ging es ihr genauso wie Fawn. Sie hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun und die Privatsphäre zu verletzen, die ihrer Mutter so heilig war.
»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich weiß, es kommt einem ein bisschen komisch vor, aber ich glaube, Mom würde schon verstehen, dass wir es nur machen, weil wir keine andere Wahl haben. Weil wir wissen wollen, wo sie geblieben ist.«
Ruthie ging zum Wandschrank. Fawn kletterte vom Bett herunter und sah ihr zu. Sie wippte leicht auf den Füßen und drehte Mimis Arm in ihren Händen. Ihre Augen waren groß und sorgenvoll.
Roscoe kam auf leisen Pfoten ins Zimmer getappt. Zögernd schlich er näher und wiegte den Kopf hin und her, als wisse er nicht, was er von der ganzen Sache halten solle. Selbst für den Kater war das Zimmer tabu. (Ihre Mutter behauptete, sie habe eine leichte Allergie und wolle nicht in einem Bett voller Katzenhautschuppen schlafen.) Nun erforschte er vorsichtig das unbekannte Terrain. Sein buschiger grauer Schwanz war aufgestellt und zuckte. Roscoe stakste zur Schranktür, machte einen Buckel, fauchte und rannte aus dem Zimmer.
»Du alte Dramaqueen!«, rief Ruthie ihm hinterher.
Sie trat zur Tür des Wandschranks, drehte am Knauf und zog. Nichts geschah. Sie zog noch einmal kräftiger, dann versuchte sie es mit Drücken. Die Tür bewegte sich kein Stück.
Komisch. Sie machte einen Schritt zurück, inspizierte die Tür genauer und stellte dabei fest, dass oben und unten jeweils eine Latte quer über das Türblatt geschraubt worden war, so dass sie sich nicht mehr öffnen ließ. Was um alles in der Welt war der Sinn dabei, einen Wandschrank auf diese Weise zu verrammeln?
Sie würde nach unten gehen und einen Schraubenzieher holen müssen – oder vielleicht eine Brechstange aus der Scheune.
»Ich glaube, ich hab was gefunden.« Fawns Stimme zitterte. Ruthie erschrak ein wenig. Sie drehte sich um und sah, dass ihre Schwester den wollenen Läufer rechts neben dem Bett beiseitegezogen und eine kleine Luke in den Kieferndielen geöffnet hatte. Sie war blass um die Nase.
»Was ist das?«, fragte Ruthie und war mit drei großen Schritten bei ihrer Schwester.
Statt zu antworten, starrte Fawn bloß mit ängstlichen Augen in das Loch.
Ruthie warf einen Blick in das Geheimfach, das Fawn entdeckt hatte. Es war etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter groß. Die hölzernen Dielen waren sorgsam ausgesägt und zu einer kleinen Tür mit Scharnieren aus Messing umgebaut worden. Das Fach war nur etwa fünfzehn Zentimeter tief. Darin lag ganz zuoberst, auf einem Schuhkarton, eine kleine Pistole mit hölzernem Griff. Ruthie blinzelte fassungslos. Ihre Eltern waren friedliebende, pazifistische Hippies. Sie hassten Waffen. Ihr Vater hatte einen mit seinen Schusswaffen-Statistiken zu Tode langweilen können – wie viel größer die Wahrscheinlichkeit war, dass durch eine Schusswaffe ein Familienmitglied statt eines Eindringlings getötet wurde, bei wie viel Prozent aller Gewaltverbrechen Schusswaffen im Spiel waren … Jedes Mal, wenn sie ein Huhn oder einen Truthahn schlachteten, musste auf Verlangen ihrer Mutter ein kompliziertes Ritual
Weitere Kostenlose Bücher