Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
eine Lüge war«, erwiderte sie laut mit einer Stimme voller Bitterkeit.
Es war nicht nur diese letzte Lüge, die ihr zu schaffen machte, sondern alles, was in den Tagen davor passiert war. Sie hatte deutlich gespürt, dass Gary etwas vor ihr verheimlichte. Zwei Wochen vor seinem Tod hatten sie einen Wochenend-Ausflug in die Adirondacks gemacht. Der Ausflug hatte sie mit solcher Hoffnung erfüllt. Es war Mitte Oktober, das Herbstlaub strahlte in den schönsten Farben, und Veränderung lag in der Luft. Sie hatten die Harley genommen und in einer rustikalen Hütte im Wald übernachtet. Es war die erste Reise seit Austins Tod, und sie hatten tatsächlich Spaß gehabt – es war das erste Mal, dass nicht jede Minute von Trauer und Wut überschattet wurde.
Sie tranken eine Flasche Wein am Feuer, scherzten und lachten. (Katherine sagte, der Mann, der die Hütten vermiete, habe eine Nase wie eine Steckrübe, woraufhin Gary sofort anfing, sämtliche ihrer Bekannten einer Gemüse- oder Obstsorte zuzuordnen – am besten war Katherines Schwester Hazel, die den Kopf einer Artischocke hatte, inklusive stachliger Haare.) Sie lachten, bis ihnen die Bäuche weh taten, und dann liebten sie sich auf dem Fußboden. Katherine hatte das Gefühl, dass endlich wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen war, dass sie es vielleicht doch irgendwie schaffen würden. Sie würden einen Weg finden, weiterzumachen; ihr neues Leben ohne Austin zu meistern. Vielleicht, nur vielleicht, würden sie eines Tages noch ein Kind bekommen. Gary hatte es, das Gesicht vom Wein gerötet, sogar selbst angesprochen. »Was meinst du?«, hatte er sie gefragt.
»Wer weiß«, hatte sie geantwortet und gleichzeitig geweint und gelacht. »Wer weiß.«
Sie hatte sich Gary näher gefühlt als jemals zuvor. Sie hatten einen langen, schweren Weg hinter sich, hatten einander von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt, aber sie waren trotzdem noch zusammen, sie hatten trotzdem durchgehalten.
Auf der Heimfahrt hatten sie bei einem kleinen Antiquitätenladen haltgemacht. Gary hatte eine Aktenkiste aus Blech voll mit alten Fotos und Ferrotypien für seine Sammlung erstanden. Beim Öffnen eines der Umschläge daraus hatte er einen seltsamen kleinen Ring entdeckt, den er Katherine geschenkt hatte. Er hatte ihn ihr an den Finger gesteckt mit den Worten: »Auf einen Neuanfang.« Sie hatte ihn geküsst. Es war einer dieser hungrigen, schwindelig machenden Küsse gewesen, wie damals während ihrer Studentenzeit. Sie hatte den kleinen Ring an ihrem Finger hin und her gedreht und fest daran geglaubt, dass sie tatsächlich noch einmal ganz von vorn beginnen würden.
Doch schon bald nach ihrer Rückkehr spürte Katherine, dass irgendetwas nicht stimmte. Gary zog sich von ihr zurück, und zwar mehr denn je. Er kam abends spät nach Hause, ging morgens in aller Frühe fort und schloss sich stundenlang in seinem Studio ein, das sie am hinteren Ende ihres Lofts mit Trennwänden eingerichtet hatten. Als Katherine sich erkundigte, woran er gerade arbeite, schüttelte er bloß den Kopf und sagte: »An nichts.«
Sie versuchte auf jede erdenkliche Weise, an ihn heranzukommen – sie kochte seine Lieblingsgerichte zum Abendessen und schlug vor, noch einen weiteren Wochenend-Ausflug mit dem Motorrad zu unternehmen, bevor es dafür zu kalt wurde. Sie bat ihn sogar, ihr eine Geschichte über die Leute auf den Fotos zu erzählen, die er gerade restaurierte.
»Ich arbeite im Moment an keiner Restaurierung«, lautete seine Antwort.
Aber was trieb er dann Stunde um Stunde bei verschlossener Tür in seinem Studio, die Musik so laut aufgedreht, dass Katherine das Vibrieren in den Bodendielen spüren konnte?
Sie behielt den Ring, den er ihr geschenkt hatte, starrte ihn an, als könne sie ihn zwingen, mit ihr in der Zeit zurückzureisen, damit alles wieder so würde wie in der Hütte. Doch Gary blieb abweisend und verschlossen.
Sie hatte Angst, er könnte wieder in die Dunkelheit abgleiten, die ihn nach Austins Tod gefangen genommen hatte. Diese Dunkelheit hatte einen Mann aus ihm gemacht, den Katherine nicht nur nicht wiedererkannte, sondern vor dem sie sich sogar fürchtete. Einen unberechenbaren Mann, der zu viel trank und zu Gewaltausbrüchen neigte, während derer er Fotoausrüstung im Wert von Tausenden von Dollar zertrümmerte oder ihren großen Flachbildfernseher in Stücke schlug. Einmal hatte er sämtliche Weingläser zerbrochen und sich mit einer der Scherben einen tiefen Schnitt im
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