Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Der Essensgeruch ekelt mich an. Alles, woran ich denken kann, ist, wie gerne Gertie all diese Dinge gegessen hätte – frische Pfefferkuchen mit Schlagsahne! Aber Gertie ist tot, und die Flut an Essen nimmt kein Ende.
Ich sehe mich nicken, den Leuten die Hand schütteln, ihre Umarmungen und ihre Gaben und ihre teilnahmsvollen Gesten annehmen. Claudia Bemis hat das Haus von oben bis unten geschrubbt und sorgt dafür, dass stets genügend Kaffee da ist. Die Männer haben Anmachholz geschnitten, bündelweise Scheite für den Kamin hereingetragen und halten den Hof frei von Schnee.
Lucius weicht die ganze Zeit über nicht von Martins Seite. Den Großteil des gestrigen Tages waren sie zusammen in der Scheune und haben Gerties Sarg gezimmert.
In den letzten zwei Tagen sind unzählige Menschen gekommen, um uns ihr Beileid auszudrücken und zu sagen, wie leid es ihnen tut. Ihre Worte sind hohl. Leer. Luftblasen im Wasser, die an die Oberfläche steigen.
Gertie wohnt jetzt bei den Engeln.
Wir beten für euch.
Auch Delilah Banks, die Lehrerin, stattete uns einen Besuch ab. »Gertie hatte solch eine überbordende Phantasie«, sagte sie unter Tränen. »Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr sie mir fehlen wird.«
Ein weinendes Gesicht nach dem anderen, ein Chor gedämpfter, ernster Stimmen: Es tut uns leid. Es tut uns so unendlich leid.
Ich will ihr Mitgefühl nicht – ich will meine Gertie zurück, und wenn das nicht möglich ist, dann kann von mir aus die ganze Welt mitsamt ihren Tränen und Aufläufen und Pfefferkuchen zum Teufel gehen.
Der arme alte Shep hat sich neben Gerties Stuhl in der Küche niedergelassen. Dort liegt er den ganzen Tag und schaut hoffnungsvoll auf, wann immer er jemanden hereinkommen hört, nur um den Kopf dann wieder traurig auf die Vorderpfoten sinken zu lassen, sobald er sieht, dass es nicht Gertie ist.
»Der Arme«, sagt meine Nichte Amelia, kniet sich neben ihn, streichelt ihm den Kopf und füttert ihn mit Leckerbissen.
Sie ist sehr um mich bemüht. Sie hat darauf bestanden, einige Tage bei uns zu bleiben, um zu helfen. Sie ist einundzwanzig, von außergewöhnlicher Schönheit und durchsetzungsstark.
Gestern Abend vor dem Zubettgehen brachte sie mir warmen Branntwein aufs Zimmer und bestand darauf, dass ich den ganzen Becher austrank. »Onkel Lucius sagt, er wird dir guttun«, erklärte sie.
Dann nahm sie meine Bürste und begann meine Haare zu entwirren. Seit ich ein kleines Kind war, hat mir niemand mehr die Haare gebürstet.
»Darf ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte sie mich, während sie bürstete.
Ich nickte.
»Die Toten verlassen uns nie wirklich«, flüsterte sie, und ihre Lippen waren meinem Ohr so nahe, dass ich die Wärme ihres Atems spüren konnte. »In Montpelier gibt es einen Zirkel von Damen. Sie treffen sich einmal im Monat und nehmen Kontakt zu den Verstorbenen auf. Ich war schon mehrmals dort und habe selbst gehört, wie die Geister auf den Tisch geklopft haben. Du musst unbedingt einmal mitkommen, Tante Sara«, sagte sie, und ihr Tonfall wurde drängender. »Sobald es dir ein bisschen bessergeht, werden wir hinfahren.«
»Martin würde es nicht gutheißen«, wandte ich ein.
»Dann werden wir ihm nichts davon erzählen«, wisperte sie.
Martin ist mir kein Trost – er ist scheu, tollpatschig und unbeholfen. Früher einmal fand ich diese Eigenschaften an ihm jungenhaft und liebenswert, doch nun wünschte ich, er wäre ein anderer Mann – ein Mann mit mehr Selbstvertrauen. Mittlerweile verachte ich ihn dafür, dass er anderen Menschen niemals in die Augen sieht. Wie soll man einem solchen Mann trauen? Es ist noch gar nicht lange her, da liebte ich sogar sein Humpeln, weil es mich in gewisser Weise an all die Dinge erinnerte, die er für unsere Familie getan hat – an sein ständiges Bemühen, für Wärme und Nahrung zu sorgen und um jeden Preis die Farm am Leben zu erhalten. Nun macht mich das laute Scharren seines verkrüppelten Fußes auf den Dielen schier rasend; es ist das Geräusch von Schwäche und Versagen. Ich weiß, dass es unrecht ist, so zu empfinden, und ich schäme mich für die bittere Galle, die seit kurzem in mir brodelt, doch ich bin machtlos gegen sie.
Und tief im Herzen weiß ich, was der wahre Grund für diese Gefühle ist: Ich gebe Martin die Schuld an dem, was Gertie zugestoßen ist. Wäre sie ihm an jenem Morgen nicht in den Wald gefolgt, hätte ich sie jetzt noch hier an meiner Seite.
»Wir werden das durchstehen«,
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