Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
versichert er mir und nimmt meine Hand. Seine Haut ist kalt und feucht wie ein Fisch. Er schenkt mir ein warmes, liebevolles Lächeln, doch dahinter sehe ich deutlich seine Besorgnis.
Ich bleibe stumm. Ich sage ihm nicht, dass ich nicht länger den Wunsch habe, irgendetwas durchzustehen. Dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als mich davonzustehlen und auf den Grund des Brunnens zu stürzen, damit ich wieder mit meiner Gertie vereint sein kann.
Nicht einmal Reverend Ayers vermag mich aufzurichten.
Er kam heute Nachmittag, um über die Vorbereitungen für Gerties Trauergottesdienst und die Beerdigung zu reden. Ich hatte das Gespräch lange vor mir hergeschoben, doch heute hatten Martin und Lucius verkündet, dass es an der Zeit sei. Wir hätten lange genug gewartet.
Wir saßen am Küchentisch – der Reverend, Martin, Lucius und ich. In unseren Bechern wurde der Kaffee kalt. Reverend Ayers hatte einen Korb voller Muffins mitgebracht, die seine Frau Mary gebacken hatte. Sie sprachen darüber, Gertie oben auf dem Friedhof bei der Moosbeerenwiese neben Martins Familie zu begraben, doch davon wollte ich nichts wissen.
»Sie gehört hierher«, beharrte ich. Martin nickte, Lucius öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich dann jedoch. So wurde beschlossen, dass wir sie in dem kleinen Familiengrab hinter dem Haus beisetzen würden, neben ihrem winzigen Bruder, meiner Mutter, meinem Vater und Jacob.
Als Reverend Ayers sich verabschiedete, ergriff er meine Hand. »Denk daran, Sara, Gertie ist jetzt an einem besseren Ort. Sie ist bei unserem Herrn.«
Ich spuckte ihm ins Gesicht.
Es geschah automatisch, ohne nachzudenken, als wäre es für mich ebenso natürlich wie einen Schluck Wasser zu trinken, wenn ich durstig war.
Ich hatte Reverend Ayers ins Gesicht gespuckt, man stelle sich das vor! Ich kenne den Mann schon mein ganzes Leben – er hat mich getauft, Martin und mich vermählt, unseren Sohn Charles beerdigt. Ich habe mich zeit meines Lebens bemüht, an seine Lehren zu glauben und nach dem Wort Gottes zu leben. Doch damit ist nun Schluss.
»Sara!«, sagte Lucius entsetzt und zückte ein sauberes weißes Taschentuch, das er dem Reverend reichte.
Reverend Ayers wischte sich das Gesicht ab und trat einen Schritt von mir zurück. Er wirkte … nicht zornig oder besorgt, vielmehr schien er Angst zu haben, was ich als Nächstes tun könnte.
»Wenn der Gott, den wir verehren und zu dem wir beten, derselbe ist, der Gertie zu dem Brunnen geführt, der sie mir weggenommen hat, dann will ich mit ihm nichts mehr zu tun haben«, erklärte ich. »Bitte verlassen Sie mein Haus, und nehmen Sie Ihren bösartigen Gott mit.«
Der arme Martin war schockiert und stammelte Entschuldigungen.
»Es tut mir so leid«, sagte er, als er und Lucius Reverend Ayers hinausbegleiteten. »Sie ist krank vor Kummer. Sie ist nicht sie selbst.«
Nicht ich selbst.
Dabei bin ich noch genau dieselbe, die ich immer war. Nur, dass jetzt ein Stück von mir fehlt. Ein Stück, das dieselbe Form hat wie Gertie und das aus dem tiefsten Innern meines Wesens herausgeschnitten wurde.
Vielleicht erlaubt mir die Trauer zum allerersten Mal, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.
Ich weiß nun, dass Martin mich nie wirklich gekannt hat. Es gibt nur einen Menschen, der das von sich behaupten kann – der mich ganz gesehen hat, das Schöne wie das Hässliche. Und nach diesem Menschen sehne ich mich.
Auntie.
So lange habe ich versucht, all meine Erinnerungen an sie zu verdrängen. Mein ganzes Erwachsenenleben habe ich damit zugebracht, mir einzureden, dass sie bekommen hat, was sie verdiente; dass ihr Tod, schrecklich wie er war, nur die Folge ihres eigenen Tuns war. Doch so ganz habe ich das nie geglaubt. Nun denke ich am meisten darüber nach, dass ich etwas hätte unternehmen sollen, um es zu verhindern. Hätte ich nur einen Weg gefunden, sie zu retten, sage ich mir, dann wäre mein Leben vielleicht anders verlaufen. Womöglich sind all die Trauer und der Schmerz, die ich erlitten habe, in irgendeiner Weise mit dem verknüpft, was ich an jenem Tag getan habe, als ich neun Jahre alt war.
Es ist seltsam, dass sie der Mensch ist, nach dem ich mich am stärksten sehne, wenn mein Herz zerrissen ist und ich nicht weiß, wie ich weiterleben soll.
Sie ist die Einzige, die vielleicht die richtigen Worte finden würde, die mir echten Trost spenden könnte. Und ich weiß, ich weiß ganz genau, dass sie lachen würde, wenn ich ihr erzählte, dass ich dem
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