Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Reverend ins Gesicht gespuckt habe!
Sie würde den Kopf in den Nacken werfen und lachen.
»Reverend Ayers sagt, es gibt nur einen Gott«, meinte ich einmal zu ihr. Es war wenige Wochen nachdem ich Hester Jameson im Wald gesehen und Auntie über die Schlafenden ausgefragt hatte. »Und dass es falsch ist, jemand oder etwas anderes zu verehren.«
Auntie lachte und spie braunen Tabaksaft auf die Erde. Wir holperten in ihrem alten Wagen übers Land. Er war schwer beladen mit Tierfellen, denn wir waren unterwegs zum Pelzhändler in St. Johnsbury. Auntie unternahm diese Reise viermal im Jahr, und er gab ihr stets einen fairen Preis für ihre Felle. Dies war das erste Mal, dass Vater mir erlaubt hatte, mitzufahren und die Nacht außer Haus zu verbringen. Bevor wir aufgebrochen waren, hatte Auntie ein paar Krümel Tabak auf der Erde verstreut und bei den Geistern und den vier Himmelsrichtungen um eine sichere Reise gebeten.
»Der junge Reverend Ayers steht vor einem See und sieht darin nur sein eigenes Antlitz. Das ist für ihn Gott. Er sieht nicht die Geschöpfe, die tief unten am Grund leben, oder die Libellen, die übers Wasser schwirren, oder den Frosch auf dem Seerosenblatt.« Aunties Gesicht war voller Mitleid und Verachtung, als sie den Kopf schüttelte, um dann erneut Tabaksaft auszuspucken. »Sein Geist und sein Herz verschließen sich der wahren Schönheit des Sees, dem Ort, an dem all seine Magie liegt.«
Auntie hielt die Zügel und lenkte das Pferd über den schmalen, von zahlreichen Fahrrillen zerfurchten Weg. Manchmal bezweifelte ich, dass Auntie die Zügel überhaupt brauchte; es schien, als könne sie das Pferd allein durch Reden dazu bewegen, ihrem Willen zu gehorchen. Sie hatte die wunderbare Gabe, mit fast jedem Tier sprechen zu können; sie konnte Vögel herbeirufen, die Fische näher an ihre Netze heranlocken. Einmal sah ich, wie sie einen Luchs aus seinem Versteck direkt in ihre Falle lockte.
Die Fahrt ging langsam voran. Die Luft war warm und süß und erfüllt von Vogelgezwitscher. Wir befanden uns inzwischen mehrere Meilen östlich der Stadt, umgeben von sanften Hügeln, auf denen hier und da Schafe standen und zufrieden blökten, während sie sich an den frischen Frühlingskräutern satt fraßen.
»Aber er ist doch ein kluger Mann«, wandte ich ein. »Er hat lange studiert. Und er liest jeden Tag in der Bibel.«
»Es gibt verschiedene Arten der Klugheit, Sara.«
Ich nickte, weil ich verstand, was sie meinte. Auntie war der klügste Mensch, den ich kannte – aus der ganzen Stadt kamen die Leute zu ihrer kleinen Hütte im Wald, um Arzneien, Zaubersprüche für die Liebe oder für eine gute Ernte bei ihr zu kaufen. Niemand sprach darüber oder gab offen zu, Auntie dafür bezahlt zu haben, dass sie einen Sirup braute, der ein Kind vom Husten heilte, oder einen Talisman, der dem Träger dabei helfen sollte, seinen sehnlichsten Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen.
»Reverend Ayers sagt, wenn wir sterben, kommen unsere Seelen in den Himmel zu Gott.«
»Glaubst du das auch?«, fragte Auntie, den Blick auf die holprige Straße gerichtet.
»Du hast mir etwas anderes beigebracht«, antwortete ich.
»Und was habe ich dir beigebracht?« Mit hochgezogenen Brauen drehte sie sich zu mir um.
Auntie stellte mich oft auf die Probe, und ich wusste, dass ich meine Antwort mit Sorgfalt wählen musste – antwortete ich falsch, konnte es passieren, dass sie mich stundenlang nicht beachtete und so tat, als sei ich gar nicht da; vielleicht ginge sie sogar so weit, mir meinen Anteil am Mittag- oder Abendessen vorzuenthalten. Ich hatte schon früh gelernt, dass man immer einen Preis dafür zahlen musste, wenn man Auntie enttäuschte, und es war etwas, was zu verhindern ich mich stets nach Kräften bemühte.
»Du sagst immer, dass der Tod kein Ende ist, sondern ein Anfang. Dass die Verstorbenen in die Geisterwelt hinübergehen und auch danach immer noch bei uns sind.«
Auntie nickte. Sie wartete darauf, dass ich noch mehr sagte.
»Die Vorstellung gefällt mir«, fügte ich hinzu. »Dass sie überall um uns sind und uns zuschauen.«
Auntie schenkte mir ein Lächeln.
Linker Hand plätscherte ein heller Bach, und weil es ein klarer Tag war, konnten wir den Kamelbuckel in der Ferne sehen. Rechts des Weges zog sich eine schnurgerade Reihe blühender Apfelbäume entlang, die schwer und süß dufteten. Bienen summten von Blüte zu Blüte und taumelten wie trunken durch die Luft, die winzigen Beinchen schwer unter
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