Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
der Last der Pollen.
Ich rückte näher an Auntie heran. Sie hatte die Hände locker an den Zügeln. Es waren die stärksten Hände, die ich je gesehen hatte. Ich fühlte mich geborgen und verspürte ein seltsames Glücksgefühl, als sei ich genau dort, wo ich hingehörte.
Später am Abend, nachdem wir die Felle an den Händler in St. Johnsbury verkauft hatten, schlugen wir unser Lager am Fluss auf einer kleinen grasbewachsenen Lichtung unter einer Weide auf. Auntie hatte uns hinten im Wagen ein kleines Bett aus Bärenfellen und Decken gerichtet. Sie hatte ein prasselndes Feuer entfacht, und als es niedergebrannt war, spießten wir die Forellen, die sie gefangen hatte, auf Stöcke und drehten sie vorsichtig über der Glut. Auntie holte einen Emailletopf hervor und brühte darin einen süß schmeckenden Tee aus Kräutern und Wurzeln auf, den wir aus Blechtassen tranken. Nach dem Abendessen, sobald sie das Feuer neu geschürt hatte, saugte Auntie an den Gräten und leckte jedes noch so winzige Stückchen Fleisch von ihnen ab. Sie aß fast alles vom Fisch, selbst die Augen. Die Innereien warf sie Buckshot hin, der sich vom Lager entfernt hatte und mit seinem eigenen Abendessen zurückgekommen war: einem Murmeltier, das nicht schnell genug in seinen Bau hatte flüchten können.
Der Mond stand am Himmel, die Nacht war schwarz wie Tinte. Außerhalb des Lichtkreises, den das Feuer warf, sah man nichts. Die Welt jenseits bestand nur noch aus Geräuschen: das Plätschern des Flusses, das am Tage beruhigend geklungen hatte, doch nun zu einem seltsam unheimlichen Murmeln geworden war; hin und wieder das Quaken eines Ochsenfroschs; der weit entfernte Ruf einer Eule.
»Sag mir die Zukunft voraus«, bat ich, während ich an den langen weichen Grashalmen zupfte, die um mich herum wuchsen.
Auntie lächelte und streckte sich wie eine Katze. »Heute Abend nicht. Der Mond steht nicht günstig.«
»Bitte«, flehte ich und zog an ihrem Mantel, so wie ich es als kleines Kind getan hatte. Ich liebte diesen Mantel: seine gemalten bunten Blumen am Saum, die Perlen und Stachelschweinstacheln, die in akkuraten Mustern an Schultern und Vorderpasse aufgenäht waren.
»Also schön«, sagte sie schließlich, warf die Fischgräten ins Feuer und wischte sich die fettigen Hände am Rock ab. Dann langte sie in den Beutel, den sie am Gürtel trug, und holte eine Prise fein gemahlenes Pulver heraus.
»Was ist das?«
»Schhh«, befahl Auntie, dann murmelte sie etwas, was ich nicht verstehen konnte. Ein Gebet, vermutete ich. Einen Wunsch. Eine Beschwörungsformel. Dann warf sie das Pulver ins Feuer. Es knisterte und zischte und ließ die Flammen in blauen und grünen Funken erglühen. Die hängenden Zweige der Weide über uns schienen das Licht einzufangen, und sie schwangen hin und her wie dünne Arme, die nach uns greifen wollten. Vom Wasser her kam das Platschen eines landenden Vogels, einer Ente oder eines Reihers.
Auntie blickte forschend in die Flammen.
Dann – oder bildete ich es mir nur ein? – schien sie zusammenzuzucken und wandte den Blick ab. Sie sog scharf die Luft ein, als hätte das Feuer ihr einen Schlag versetzt.
»Was ist?«, fragte ich und beugte mich zu ihr. »Was hast du gesehen?«
»Nichts«, sagte Auntie. Sie sah mich nicht an, doch ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie log. Auntie hatte etwas Schlimmes in meiner Zukunft gesehen, etwas so Schreckliches, dass sie sich davon hatte abwenden müssen.
»Erzähl es mir«, bat ich und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Bitte.«
Sie schüttelte meine Hand ab, als wäre sie ein lästiges Insekt. »Da gibt es nichts zu erzählen«, antwortete sie barsch.
»Bitte«, wiederholte ich, erneut nach ihrem Arm greifend. Meine Hand berührte das weiche Rehfell ihres Mantels. »Ich weiß, dass du etwas gesehen hast.«
Ihre Augen verdunkelten sich, und sie kniff mich heftig in den Handrücken. Ich zog meine Hand zurück und rückte von ihr ab.
»Wie ich schon sagte, der Mond steht nicht günstig. Das nächste Mal hörst du vielleicht auf mich.«
Erneut richtete Auntie den Blick in die Flammen, die kurz davor waren, niederzubrennen. Die leuchtenden Farben waren aus ihnen verschwunden. Ich rückte noch ein kleines Stück zur Seite, schlang die Arme um meine Knie und rutschte näher ans Feuer heran.
Meine Hand brannte, wo Auntie mich gekniffen hatte, und ich fragte mich, ob ich vielleicht blutete. Doch ich war klug genug, nicht nachzusehen. Besser wäre es, die Schmerzen
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