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Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)

Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)

Titel: Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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zu ignorieren, so zu tun, als sei es gar nicht passiert.
    Nach einigen Momenten beklommenen Schweigens sah sie mich an.
    »Was ich dir sagen kann, ist dies: Du bist etwas Besonderes, Sara Harrison, aber das weißt du bereits. Du hast etwas in dir, was dich von den anderen unterscheidet.« In ihren Augen lag ein solcher Ernst, dass mein Herz ganz schwer wurde. »Etwas, das hell strahlt und dir dieselben Gaben verleiht, wie ich sie habe. Die Gabe des zweiten Gesichts und die Gabe der Magie. Sie machen dich stärker, als du es ahnst. Und ach, kleine Sara, lass mich dir auch noch dies sagen.« Sie beugte sich lächelnd nach vorn und warf einen Stock in die Flammen, der mit einem Knacken Feuer fing. »Wenn du groß bist und jemals eine Tochter haben solltest, so werden in ihr diese Gaben doppelt so stark sein. Sie wird zwischen den Welten wandeln. Sie wird so mächtig sein wie ich, vielleicht sogar noch mächtiger. Das haben mir die Flammen gezeigt.«
    Wie sehr wünschte ich, Auntie wäre jetzt bei mir – wie stark meine Sehnsucht nach ihr ist. Es gibt tausend Fragen, die ich ihr stellen möchte. Doch zuerst würde ich ihr sagen, dass sie mit dem, was sie in jener lange zurückliegenden Nacht im Feuer gesehen hatte, recht behalten hat – meine Gertie war wirklich etwas Besonderes. Sie sah Dinge, die niemand sonst sehen konnte. Dinge wie den blauen Hund und das Wintervolk. Sie war eine Wandlerin zwischen den Welten.
    Ich liege im Bett. Vor einer Weile kam Lucius herauf, um mir meine allabendliche Tasse Rum zu geben. Er brachte mir auch eine Schachtel Zuckerschlangen mit.
    »Die hier sind von Abe Cushing«, sagte er. Ich nickte und sah zu, wie er die Schachtel mit den Süßigkeiten auf meinem Nachttisch abstellte. Abe gehört der Gemischtwarenladen. Er ist ein Mann weniger Worte, doch er hatte Gertie sehr lieb – wenn wir in den Laden kamen, um Zucker und Mehl oder Stoff und Garn für ein neues Kleid zu kaufen, steckte er ihr immer heimlich Zitronenbonbons oder Karamellen zu.
    Lucius blickte auf mich herab. Seine Augen waren hell und klar, sein Hemd faltenfrei und von makellosem Weiß. Wie brachte er es nur fertig, stets so sauber und adrett auszusehen?
    »Wo ist Amelia?«, wollte ich wissen.
    »Unten«, sagte er. »Ich dachte, heute Abend komme ich und sehe nach dir.« Er legte erst eine Hand auf meine Stirn, dann zwei Finger an mein Handgelenk, um meinen Puls zu messen. »Wie fühlst du dich?«, fragte er.
    Ich gab keine Antwort. Was erwartete er von mir?
    »Martin macht sich große Sorgen um dich«, setzte er hinzu. »Der … Vorfall heute mit Reverend Ayers war unentschuldbar.«
    Ich biss mir auf die Lippe und schwieg.
    »Sara«, sagte er und bückte sich, so dass sein Gesicht dem meinen ganz nahe war. »Ich verstehe, dass du trauerst. Wir alle trauern. Aber ich bitte dich, dir ein bisschen mehr Mühe zu geben.«
    »Mühe?«, fragte ich verwirrt.
    »Gertie ist von uns gegangen«, sagte er. »Aber du und Martin, ihr müsst weiterleben.«
    Dann ließ er mich allein mit meinem Rum, den ich in zwei großen Schlucken trank, ehe ich mich in die Kissen zurücksinken ließ. Der Quilt fühlte sich schrecklich schwer und drückend an.
    Gertie ist von uns gegangen , hat Lucius zu mir gesagt.
    Doch dann höre ich Amelias Stimme in meinem Kopf: Die Toten verlassen uns niemals wirklich .
    Und ich denke an das, was Auntie mich vor langer Zeit gelehrt hat: dass der Tod kein Ende ist, sondern ein Anfang. Dass die Verstorbenen in die Welt der Geister hinübergehen und danach immer noch bei uns sind.
    »Gertie«, sage ich laut. »Wenn du hier bist, bitte gib mir ein Zeichen.« Dann warte ich. Ich liege unter der Decke und warte. Ich warte auf ein Flüstern, auf das Gefühl weicher Finger, die Buchstaben in meine Handfläche malen, oder auf ein Klopfen auf der Tischplatte, wie Amelia es mir beschrieben hat.
    Doch nichts geschieht.
    Ich bin allein.

Besucher von der anderen Seite
Das geheime Tagebuch der Sara Harrison Shea
23. Januar 1908
    Vor sechs Tagen haben wir Gertie beerdigt. Tags zuvor war Martin von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht auf den Beinen, um das große Feuer zu versorgen, das den Boden auftauen sollte, damit er ein Grab für ihren kleinen Sarg ausheben konnte. Ich beobachtete das Feuer durch das Küchenfenster. Martins Gesicht war vom Flammenschein hell erleuchtet, Asche bedeckte sein Haar und seine Kleider. Es war etwas Abscheuliches, dieses Feuer. Wie ein Leuchtfeuer, das mir zu verstehen gab, dass das Ende

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