Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
gekommen war und ich nichts tun konnte, um es aufzuhalten: Gertie war tot, und wir würden sie unter die Erde bringen. Mit seinem rot glühenden Gesicht sah Martin aus wie ein Teufel, als er dort stand und das Feuer nährte. Er hatte sich nicht rasiert, seine Züge waren kantig und eingefallen. Ich wollte wegschauen, doch ich konnte nicht. Den ganzen Tag stand ich am Fenster und sah das Feuer brennen.
Fast jeder aus der Stadt kam am nächsten Tag, um dabei zu sein, als wir unser kleines Mädchen zur Ruhe betteten. Um ihretwillen gab Reverend Ayers eine beeindruckende Vorstellung. Er sprach von Gottes kleinen Lämmern und der wunderbaren Herrlichkeit seines Reiches, doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich sah ihm nicht einmal in die Augen, stattdessen starrte ich auf die schlichte Kiefernholzkiste, in die sie unsere Gertie gelegt hatten. Es war ein bitterkalter Nachmittag. Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Martin legte den Arm um mich, doch ich schob ihn beiseite, dann zog ich meinen Mantel aus und breitete ihn über den Sarg. Die arme kleine Gertie musste darin schrecklich frieren.
Danach war ich tief verzagt. Ich konnte das Bett nicht mehr verlassen. Die Wahrheit war, dass ich keinen Sinn darin sah, weiterzuleben. Hätte ich die Kraft gehabt, aus dem Bett aufzustehen, wäre ich nach unten gegangen, hätte das Gewehr meines Mannes genommen, mir den Lauf in den Mund gesteckt und abgedrückt. Ich sah vor mir, wie ich es tat. Ich malte es mir aus. Träumte davon. Ich spürte, wie ich die Stufen hinunterschwebte, nach der Flinte griff, das Schießpulver schmeckte.
In meinen Träumen tötete ich mich unzählige Male.
Danach wachte ich weinend auf, verzweifelt, dass ich noch am Leben war, gefangen in meinem elenden Körper, meinem elenden Leben. Allein in diesem Schlafzimmer mit seinen weißen Wänden, auf denen Staub, Rauch und Schmutz gelbe Flecken hinterlassen hatten. Nur ich und das hölzerne Bett mit der Federmatratze, der Schrank, in dem unsere alten Kleider hängen, der Nachttisch, die Kommode mit unseren Unterkleidern und der Sessel, in den sich Martin jeden Abend setzt, wenn er die Stiefel auszieht. Als Gertie noch am Leben war, hat das Zimmer, ja das ganze Haus, geleuchtet. Überall war Wärme. Nun ist alles trübe, hässlich, kalt.
Ich war so voller Kummer, dass ich glaubte, ohne meine kleine Gertie, meine süße kleine Kaulquappe, hätte das Leben keinen Sinn mehr. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich sie vor mir, wie sie in den Brunnenschacht stürzte, nur dass in meiner Vorstellung der Sturz kein Ende nahm – sie fiel und fiel immer tiefer in die Dunkelheit, bis sie nur noch ein winziges Pünktchen war und schließlich ganz verschwand. Wenn ich danach die Augen aufschlug, waren da nichts als das leere Zimmer, das leere Bett und mein leeres, krankes Herz.
Ich aß nicht mehr. Ich hatte nicht die Kraft, aus dem Bett aufzustehen. Ich lag einfach nur da, dämmerte vor mich hin und malte mir meinen eigenen Tod aus. Martin kam immer wieder zu mir herein. Er versuchte mich mit einem Löffel zu füttern und redete mir in sanftem Ton zu, als wäre ich ein verletztes Küken. Als das nichts half, versuchte er, mich durch Schreien und Toben zur Vernunft zu bringen. »Verdammt, Frau! Gertie ist gestorben, nicht du! Wir beide müssen unser Leben weiterleben!«
Auch Lucius kam mehrmals, um nach mir zu sehen. Er untersuchte mich, flehte mich an, mir um Martins willen einen Ruck zu geben, und blickte mit großer Besorgnis auf mich herab.
»Gertie würde das nicht wollen«, sagte er kopfschüttelnd. Er schob seine Brille hoch, um sich die Nase zu reiben.
Ich lachte. »Wie kannst du dir anmaßen, mir zu sagen, was meine Kleine wollen würde?«
Er hat mir ein Tonikum gebracht, das meine Kräfte wiederherstellen soll. Es ist zähflüssig und bitter, und ich kann mich nur zwingen, es herunterzuschlucken, indem ich mir vorstelle, dass es in Wahrheit ein tödliches Gift ist.
Meine Nichte Amelia versuchte, mich aus meiner Schwermut zu reißen. Sie kam fröhlich zu mir ins Zimmer, in einem nagelneuen Kleid und mit adrett geflochtenem Haar. Sie brachte mir Tee und Kekse mit, die in einer Dose den weiten Weg aus England gekommen waren.
»Abe Cushing hat sie extra für mich bestellt«, erklärte sie, öffnete die Blechdose und bot mir einen der Kekse an. Ich nahm ihn und biss ein winziges Eckchen ab. Er schmeckte nach Sägemehl.
Solange Martin bei uns war, plauderte Amelia über Neuigkeiten aus der Stadt
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