Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
den Atem an.
Mäuse? Nein. Etwas Größeres. Es klang, als versuche ein Tier sich durch die Wände zu graben. Über das Scharren und Kratzen hinweg hörte er ein Rascheln wie von schlagenden Flügeln.
Er dachte an das Huhn, das er am Morgen im Wald gefunden hatte – schon wieder war eins ihrer Tiere getötet worden. Nur dass es diesmal nicht nach einem Fuchs aussah. Er hatte den Kadaver oben unweit der Felsen gefunden. Das Genick der Henne war gebrochen, ihre Brust geöffnet worden. Das Herz fehlte. Ihm fiel kein Tier ein, das so etwas tat. Er hatte das tote Huhn unter einem Steinhaufen begraben und versucht, nicht mehr daran zu denken.
Mit klopfendem Herzen streckte er die Hand aus, in der Erwartung, Saras warmen Körper neben sich zu spüren, doch ihre Seite des Bettes war kalt. War sie schon wieder in Gerties Kammer? Versteckten sich die beiden wie so oft kichernd unter der Bettdecke?
Nein. Gertie war tot. Gestorben und begraben.
Er erinnerte sich daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie ihren Körper aus dem Brunnen gezogen hatten. Als schliefe sie.
Er wusste noch, wie sich ihr Zopf in seiner Tasche angefühlt hatte, seidig weich und eingerollt wie eine Schlange.
»Sara?«, rief er. Seine Stimme war das heisere Flüstern eines Verdurstenden in der Wüste.
Die letzten Tage über war er krank vor Sorge um seine Frau gewesen. Sie hatte aufgehört zu essen, weigerte sich, das Bett zu verlassen, wusch sich nicht mehr. Mit jedem Tag wurde sie schwächer und teilnahmsloser.
»Wirklich, wir können nichts tun, außer zu warten«, hatte Lucius ihm gesagt. Sie waren in der Küche gewesen und hatten sich mit gedämpften Stimmen unterhalten. »Versuch weiter, sie zum Essen und Trinken anzuhalten, gib ihr das Tonikum und biete ihr so viel Trost, wie du nur kannst.«
»Ich muss immer wieder daran denken, wie es war, als wir Charles verloren haben«, erwiderte Martin. »Wie krank die Trauer sie damals gemacht hat.« Er wollte nicht aussprechen, was er wirklich dachte, nicht einmal vor seinem eigenen Bruder: Diesmal war es noch schlimmer. Diesmal, fürchtete er, würde sie ihm für immer entgleiten.
Die arme Gertie zu verlieren war eine Sache, doch wenn er nun auch noch Sara verlöre, wäre sein Leben endgültig vorbei.
»Ich will dir keine Angst machen, Martin«, sagte Lucius. »Aber wenn sie nicht bald wieder zur Vernunft kommt, ist es vielleicht das Beste, wenn wir sie in die staatliche Anstalt für Geisteskranke in Waterbury einweisen lassen.«
Martin versteifte sich.
»So schlimm ist es dort nicht«, setzte Lucius hinzu. »Sie haben eine Farm, die Patienten gehen jeden Tag ins Freie. Dort wäre gut für sie gesorgt.«
Martin schüttelte den Kopf. »Sie wird darüber hinwegkommen«, schwor er. »Ich werde ihr dabei helfen. Ich bin ihr Ehemann. Ich kann selbst für meine Frau sorgen.«
Doch soweit er es beurteilen konnte, machte er keinerlei Fortschritte. Im Gegenteil, mit Sara ging es immer weiter bergab. Und jetzt war sie verschwunden, mitten in der Nacht.
»Sara?«, rief er abermals.
Da war es wieder – das Scharren, Klopfen, Flattern –, diesmal lauter und verzweifelter.
Er setzte sich auf und ließ den Blick durchs dunkle Zimmer wandern. Er konnte die Umrisse des Bettes erkennen, links stand die Kommode, und dort hinten, in der rechten Zimmerecke, kauerte vornübergebeugt eine Gestalt. Sie bewegte sich unmerklich, schien zu pulsieren.
Nein.
Die Gestalt atmete. Sie atmete.
Sein Schrei blieb ihm im Halse stecken und drang nur als kehliges Zischen über seine Lippen.
In fiebernder Hast sah er sich nach einer Waffe um, nach irgendeinem schweren Gegenstand, doch dann bewegte sich die Gestalt. Sie hob den Kopf, und im trüben Mondschein erkannte er das lange kastanienbraune Haar seiner Frau.
»Sara?«, stieß er keuchend hervor. »Was machst du da?«
Sie saß in ihrem dünnen Nachthemd vor dem Wandschrank am Boden. Ihre nackten Füße waren weiß wie Marmor auf dem dunklen Holz. Und sie zitterte am ganzen Leib.
Doch sie reagierte nicht, ja sie schien ihn nicht einmal zu hören. Sorge fraß an seinen Eingeweiden wie eine gemeine Ratte.
»Komm zurück ins Bett, Liebling. Ist dir denn nicht kalt?«
Dann vernahm er es wieder. Das Scharren. Krallen auf Holz.
Es kam aus dem Schrank.
»Sara«, wiederholte er. Auf wackligen Beinen stand er auf. Das Blut rauschte durch seinen Kopf und wurde zu einem Tosen in seinen Ohren. Das Zimmer um ihn herum schien zu schwanken und sich zu dehnen. Auf einmal kam
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