Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
die früher als Kind mir gehört hatte. Ich war schwach. Mein Körper fühlte sich leicht und schwerelos an wie der Flugschirm eines Löwenzahnsamens, doch in meinem Innern vibrierte eine neue, ungekannte Energie, ein Drängen, wie ich es noch nie zuvor verspürt hatte.
Ich war seit Gerties Tod nicht mehr in ihrer Kammer gewesen, so zögerte ich eine Sekunde, bevor ich die Tür öffnete. Alles war noch genauso, wie sie es hinterlassen hatte: Das Bett war nicht gemacht, die Decken, unter denen wir an ihrem letzten Morgen gekuschelt hatten, waren zu einem unordentlichen Haufen aufgetürmt. Ihr Nachthemd lag auf dem Bett, die Schranktür stand offen, ein Bügel war leer. Auf ihm hatte das Kleid gehangen, das sie angezogen hatte, um ihrem Vater über den Hof in den Wald zu folgen.
Nimm dich in Acht, Papa, hier kommt die größte Katze des Dschungels.
Das Kleid, das sie an jenem Morgen ausgewählt hatte, war ihr Lieblingskleid gewesen, blau mit winzigen weißen Blumen. Wir hatten es gemeinsam genäht, kurz nach Schulbeginn, aus einem Stoff, den Gertie sich im Laden selbst ausgesucht hatte. Sie hatte mir geholfen, die einzelnen Stücke zuzuschneiden, und sogar ein wenig genäht. Sie hatte das Pedal der Maschine getreten und den Stoff unter der Nadel hindurchgeführt.
In diesem Kleid hatten wir sie zu Grabe getragen.
Auf der rechten Seite der Kammer gab es Regale, die ihre wenigen Spielsachen, Bücher und kleine, von ihr gesammelte Schätze enthielten: hübsche Steine, das wunderschöne Vergrößerungsglas, das Amelia ihr geschenkt hatte, drollige kleine Tierskulpturen, die sie aus Lehm vom Flussufer geformt hatte, und ein Ballspiel, das ich ihr im Gemischtwarenladen gekauft hatte. (Martin hatte mich gebeten, kein Geld für solche Dinge auszugeben, aber wie sollte ich mich zügeln?)
In ihrem Zimmer zu sein raubte mir beinahe den Atem. Ich roch sie, schmeckte sie in der Luft. Es war fast mehr, als ich ertragen konnte. Dann fiel mir wieder ein, weshalb ich gekommen war.
Ich schob das schwere hölzerne Bettgestell beiseite und fand dort, wo zuvor der linke hintere Fuß des Bettes gestanden hatte, die lose Diele. Ich zwängte die Finger in den Spalt und riss mir dabei einen Fingernagel ab, doch schon bald gelang es mir, das Brett herauszunehmen.
Darunter lag, an derselben Stelle, wo ich ihn im Alter von neun Jahren versteckt hatte, Aunties Umschlag. Das Wachssiegel war noch unversehrt.
Ich schob den Umschlag unter mein Nachthemd und rückte das Bett wieder an seinen Platz, bevor ich in das Schlafzimmer zurückkehrte. Ich baute mir ein Zelt aus den Bettdecken, so wie Gertie und ich es immer getan hatten, und öffnete den Umschlag. Ich musste eine Seite der Decke hochhalten, damit genügend Licht hereinfiel, so dass ich lesen konnte.
Ich sah Aunties vertraute, kaum leserliche Handschrift. Erinnerungen überfluteten mich: wie Auntie mir das Alphabet beibrachte, wie sie mir erklärte, wodurch sich ein Giftpilz von einem essbaren Pilz unterscheiden ließ. Ich spürte sie neben mir; roch ihren Duft nach Kiefern, Leder und Tabak; hörte die warme, wohlklingende Stimme, mit der sie mir die Lektionen des Lebens ins Ohr raunte.
Meine allerliebste Sara,
ich habe Dir versprochen, mein Wissen über die Schlafenden mit Dir zu teilen. Doch ehe Du weiterliest, musst Du begreifen, dass es sich um einen machtvollen Zauber handelt. Vollzieh ihn nur, wenn Du Dir ganz sicher bist. Einmal angefangen, gibt es kein Zurück.
Der Schlafende wird erwachen und zu Dir zurückkehren. Wie viel Zeit bis dahin vergeht, ist unterschiedlich. Manche erscheinen innerhalb weniger Stunden, andere erst nach Tagen.
Einmal erwacht, wird der Schlafende sieben Tage lang auf der Erde wandeln. Danach ist er für diese Welt auf immer verloren.
Sieben Tage, dachte ich, während in mir ein unheilvoller Plan heranreifte. Was würde ich nicht dafür geben, meine Gertie für sieben ganze Tage wieder bei mir zu haben!
Martin
25. Januar 1908
Das Geräusch weckte ihn irgendwann nach Mitternacht – ein Scharren und Kratzen. Er riss die Augen auf und lag horchend in der Dunkelheit.
Durch das zugefrorene Schlafzimmerfenster fiel fahles Mondlicht und ließ alles blau leuchten. Martin starrte zum blauweiß schimmernden Putz der Zimmerdecke empor und verhielt sich ganz still. Das Feuer war fast heruntergebrannt, es war kalt im Zimmer. Er atmete ein, dann aus, und hatte das Gefühl, als atme das Zimmer mit ihm.
Da war es wieder. Das Scharren. Nägel auf Holz. Er hielt
Weitere Kostenlose Bücher