Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
waren übersichtlich im Schachbrettmuster angeordnet und von kleinen anderthalbgeschossigen Häusern und Bungalows mit briefmarkengroßen Vorgärten gesäumt. Verkümmerte Hecken markierten die Grundstücksgrenzen. Der Schnee lag in schmutzigen Haufen auf dem Gehweg. Ruthie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, in so einer Gegend aufzuwachsen – wo man so dicht gedrängt wohnte, dass man beim Nachbarn ins Fenster schauen konnte. Vielleicht war es doch nicht so schrecklich gewesen, dass ihre Eltern sich mit ihr auf einen kleinen Hof in Vermont fernab der Außenwelt zurückgezogen hatten.
»Hier ist die Kendall Lane«, verkündete Buzz, als könne Ruthie keine Straßenschilder lesen. Er begleitete seinen Vater zu Waffen-Messen überall im Nordosten und hielt sich für einen welterfahrenen, weitgereisten Mann. »Irgendwo auf der linken Straßenseite muss es sein.« Er las die Hausnummern laut vor. »Hundertfünfundachtzig, zweihundertdrei. Schau, da ist zweihundertneunundzwanzig. Das nächste ist es.« Die heitere Frauenstimme des Navigationssystems bestätigte dies.
Buzz setzte den Blinker und bog in die Einfahrt des Hauses Nummer 231 ein – ein gedrungener Bungalow mit gelber, stellenweise rissiger Vinylverschalung. Im Vorgarten stand ein Kinderschwimmbecken, dessen Umriss unter dem Schnee vage zu erkennen war. Ein alter weißer Pontiac mit einer Delle in der hinteren Stoßstange parkte neben dem Haus. Wer auch immer die O’Rourkes waren, reich waren sie nicht. Aber Ruthie wusste, wie es war, finanziell gerade so über die Runden zu kommen – alles gebraucht zu kaufen, Kaputtgegangenes zu reparieren, statt etwas Neues anzuschaffen, auf einem Sofa sitzen zu müssen, dessen Flecken und Löcher unter hässlichen Überwürfen versteckt wurden, und mit der Gewissheit zu leben, dass nie genug Geld da sein würde, um einen Ausflug nach Disneyworld zu machen oder aufs College zu gehen.
»Ihr wartet hier«, befahl Ruthie und schnappte sich ihre Tasche mit den Portemonnaies.
»Ich pass auf«, versprach Buzz.
»Ich auch«, sagte Fawn, deren kleines Gesicht aus der Kapuze ihres rosafarbenen Daunenparkas hervorlugte.
Vorsichtig ging Ruthie den vereisten Gartenpfad entlang, erklomm die Stufen vor dem Eingang und drückte auf die Klingel. Das Klingelschild war unbeleuchtet, und sie hörte kein Läuten aus dem Innern des Hauses. Sie wartete eine Weile, nur für alle Fälle, bevor sie die Fliegentür aufzog und an die hölzerne Haustür klopfte. In der Mitte der Tür war mit einer Heftzwecke ein Osterkranz befestigt: ein Hase, umgeben von einem Ring aus verblichenen pastellfarbenen Eiern. Ruthie klopfte ein zweites Mal. Schließlich öffnete eine Frau mit unreiner Haut und vom häufigen Blondieren strohig gewordenen Haaren.
»Ja?« Der Flur, in dem die Frau stand, war schmal und düster. Es stank nach Zigarettenrauch. Ruthie hoffte, dass die Frau sie nicht ins Haus bitten würde. Sie hasste enge Räume. Bei dem bloßen Gedanken daran wurden ihre Handflächen schweißfeucht und ihr Mund trocken.
»Hi.« Ruthie schenkte der Frau ihr strahlendstes Lächeln. »Ich bin auf der Suche nach Thomas und Bridget O’Rourke.«
»Kenn ich nicht.«
»Die haben früher hier gewohnt.«
Die Frau starrte sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Nie von denen gehört. Tut mir leid.« Damit schlug sie Ruthie die Tür vor der Nase zu.
Unverzagt probierte sie es bei den Nachbarn. Die meisten waren entweder nicht zu Hause oder gingen nicht an die Tür. Gegenüber von Nummer 231 teilte ein alter Mann im Bademantel Ruthie immerhin mit, dass er niemanden mit Namen O’Rourke kenne. Wenigstens war er höflich.
»Sackgasse«, verkündete Ruthie, als sie zurück in die Fahrerkabine des Pick-ups kletterte. »Die Frau hatte noch nie von ihnen gehört. Wie’s aussieht, sind wir den ganzen weiten Weg umsonst gefahren.«
»Umsonst«, kam Fawns Stimme aus den Tiefen ihrer Kapuze.
Ruthie sah Buzz von der Seite an.
Er grinste sie an. »Sollen wir’s mal auf meine Art versuchen?«
Ruthie zuckte mit den Schultern und sank in ihren Sitz.
Sie verließen das Labyrinth identisch aussehender Häuser und fuhren zurück zur Hauptstraße. Dabei kamen sie an einer Feuerwache, einer Bank, einem Pizzaimbiss und an einem Supermarkt vorbei. Bald war die Straße auf beiden Seiten von Einkaufszentren gesäumt. Ruthie staunte, wie viel Betrieb dort herrschte – in einem fort fuhren Autos auf die Parkplätze und wieder herunter. Mussten die Leute denn nicht zur
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