Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
frischen Farben gestrichen, hatten prächtige Veranden, Türmchen und Buntglasfenster. Mit ihren Hexenhäuschen-Verzierungen und verspielten gotischen Details wirkten sie wie aus dem Märchen – allen voran das Haus, in dem sie selbst wohnte. Es war in leuchtendem Rosa gestrichen, hatte ein altes Schieferdach und Schmuckelemente, die aussahen, als wären sie aus Zuckerguss.
Gehwege und Straßen waren geräumt worden. Neben Katherine türmten sich hohe Wälle aus Schnee, ihre Füße pflügten durch mit Salz vermischten bräunlichen Schneematsch. Sie wollte schneller gehen, stattdessen jedoch wurde sie immer langsamer. Ihre Muskeln waren steif vor Kälte, und sie schlitterte bei jedem Schritt. Der Wind peitschte ihr entgegen, er war wie eine unsichtbare Hand mit eisigen Fingern, die ihr in Ärmel und Mantelkragen fuhren. Fast kam es ihr so vor, als hätte die Natur aus unerfindlichen Gründen etwas gegen sie.
Sie kam an einem Sportgeschäft vorbei, das Schneeschuhe, Skier und Parkas im Schaufenster hatte. An der Seite des Gebäudes, unmittelbar über einem Fenster voller Fahrräder, hing ein verblichenes handgemaltes Schild: JAMESONS SATTELZEUG UND FUTTERMITTEL .
Als Nächstes passierte sie einen alten Trödelladen, von dem Gary begeistert gewesen wäre. Er hatte wie besessen alte Fotos gesammelt – er liebte die sepiafarbenen Porträts längst verstorbener Fremder. Es war eine Faszination, die sie nie so recht begriffen hatte.
»Jedes Foto ist wie ein Roman, den ich niemals aufschlagen kann«, hatte er ihr zu erklären versucht. »Ich kann es nur in der Hand halten und mich fragen, was sich dahinter wohl verbirgt; ich kann mir das Leben ausmalen, das die Menschen darauf vielleicht einmal gelebt haben.«
Manchmal, wenn auf den Fotos kleine Hinweise zu finden waren – ein Name, Datum oder eine Ortsangabe –, versuchte er, mehr darüber herauszufinden, und wenn sie sich dann am Abend zum Essen an den Tisch setzten, erzählte er ihr und Austin voller Begeisterung von Zachary Turner, dem Böttcher aus Shrewsbury, Massachusetts, der im Bürgerkrieg gefallen war. Austin hörte aufmerksam zu und stellte seinem Vater Fragen, als hätte der diesen Menschen tatsächlich gekannt: Hatte er auch einen Hund, Papa? Welche Farbe hatte sein Pferd? Gary dachte sich dann Antworten zu den Fragen aus, und wenn das Abendessen vorbei war, hatten sie für diesen toten Fremden gemeinsam eine ganze Biographie entworfen: ein glückliches Leben mit Pferden und Hunden, einer Ehefrau und Kindern, die er über alles liebte.
Mittlerweile waren Katherines Füße vollständig durchnässt. Sie blieb stehen und spähte in das Schaufenster des Trödelladens: ein antikes Grammophon, ein Schlitten der Marke Flexible Flyer und eine silberne Trompete. Eine ramponierte Schaufensterpuppe trug eine Fuchsstola um den Hals. Der Fuchs hatte ein eingefallenes Gesicht, kleine spitze Zähne und zerkratzte Glasaugen, die Katherine anstarrten und sofort all ihre Geheimnisse zu kennen schienen.
Der Buchladen konnte nicht weiter als eine halbe Meile von ihrer Wohnung entfernt sein, doch Katherine kam der Weg endlos lang vor. Die Kälte biss ihr in Wangen und Finger, sie trug viel zu dünne Handschuhe. Ihre Augen begannen zu tränen, und nach einer Weile waren ihre Wimpern mit Eis überkrustet. Sie kam sich vor wie ein Polarforscher: Ernest Shackleton, der durch die trostlose, eisige Weite stapft.
Sie gelangte an die Brücke und blieb auf dem Gehweg stehen, um eine Pause einzulegen. Die Hände auf das Geländer gestützt, blickte sie ins braune Wasser des Flusses hinunter, das an den Rändern gefroren war. Am rechten Ufer, genau unterhalb der Brücke, bewegte sich etwas. Etwas Glattes, Dunkles schob sich durch den Schnee. Ein Biber oder vielleicht eine Bisamratte – Katherine kannte den Unterschied nicht genau. Es tapste schwerfällig übers Eis, tauchte dann ins Wasser und war verschwunden.
Katherine kehrte dem halb vereisten Fluss den Rücken zu und zwang sich zum Weitergehen. Schweren Schrittes überquerte sie die Brücke und lief weiter die Main Street entlang. Ihre Hände und Füße waren taub, ihr Körper fühlte sich an wie von innen ausgehöhlt. Sie dachte über das kleine braune Tier nach: mit welcher Sicherheit und Geschmeidigkeit es ins Wasser geglitten war, fast ohne Wellen zu schlagen. Es war hervorragend an seine Umwelt angepasst. Auch sie würde Wege finden müssen, sich anzupassen. Sich behände und sicher in ihrer neuen Umgebung zu bewegen.
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