Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
eine dramatische Pause. »… man glaubt der Version der Ereignisse in Saras Tagebuch, nämlich dass sie Gertie wieder zum Leben erweckt hatte.« Er beugte sich vor, und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, das eine Gespenstergeschichte erzählt. Er musterte Katherine und schien in ihrem Gesicht nach Hinweisen dafür zu forschen, ob sie solchen Geschichten tatsächlich Glauben schenken würde.
»Leider hat Martin sich erschossen, bevor irgendjemand weitere Fragen stellen konnte.«
Katherine atmete tief durch. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Und was denken Sie darüber?«
Der Mann lachte. »Ich? Ich bin nur ein Buchhändler und inoffizieller Stadthistoriker. Ich glaube an die Fakten, und davon gibt es nicht allzu viele. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Martin seine Frau getötet hat. Aber damals wie heute gibt es Leute, die etwas ganz anderes behaupten.«
»Nämlich?«
»Sie glauben, dass da draußen im Wald irgendetwas ist, etwas Böses, Übernatürliches. Im Laufe der Jahre sind immer wieder Leute spurlos verschwunden, es wurde von seltsamen Lichtern oder Schreien oder einer bleichen Gestalt berichtet, die durch die Wälder irrt. Als Kind habe ich selbst einmal gedacht, ich hätte da oben etwas gesehen; ein Gesicht, das mich aus einer Felsspalte anstarrt. Aber als ich näher herangegangen bin, war es auf einmal verschwunden.« Er riss dramatisch die Augen auf. »Habe ich Ihnen schon Angst gemacht?«
Katherine schüttelte den Kopf.
»Nun, dann lassen Sie mich Ihnen noch eine andere Geschichte erzählen. Kurz nach Saras Ermordung häuften sich in der Stadt seltsame Vorkommnisse.«
»Was für Vorkommnisse?«
»Clarence Bemis, der Nachbar der Sheas, hatte eine Herde Rinder, und jemand hat jedes einzelne seiner Tiere getötet. Eines Morgens ist er aufgewacht und fand sie mit aufgeschlitzten Hälsen. Der größte Stier war ausgeweidet worden, sein Herz fehlte. Dann hat sich Martins Bruder Lucius, der Arzt, eines Sonntags mit mehreren Litern Kerosin übergossen, ist bis zur Mitte der Main Street spaziert und hat sich angezündet.«
»Ich verstehe nicht ganz, was …«
»Die Leute sagten, kurz bevor er auf die Straße trat und sich anzündete, sei eine Frau aus der Hintertür seines Hauses gekommen. Diejenigen, die diese Frau gesehen hatten, behaupteten, es sei Sara Harrison Shea gewesen.«
Katherine erschauerte unwillkürlich.
»In dem Jahr gab es viele Todesfälle. Merkwürdige Unfälle und Krankheiten. Kinder, die unter Wagenräder gerieten, ein Brand, der den Gemischtwarenladen zerstörte und in dem der Inhaber samt Familie umkam. Und immer wieder schworen die Leute, sie hätten Sara in der Nähe gesehen – oder jemanden, der ihr zum Verwechseln ähnlich sah.« Er schenkte Katherine ein Lächeln. »Das ist West Hall in aller Kürze – jede Menge Gespenstergeschichten und Legenden, sehr wenig harte Fakten.«
Katherine schwieg eine Zeitlang. Sie betrachtete einen Aufsteller mit großformatigen Taschenbüchern neben dem Ladentisch. Damals und heute: West Hall in Bildern.
»Ist das ein Buch zur Lokalgeschichte?«, fragte sie und nahm eins der Bücher in die Hand.
»Es wurde vom Historischen Verein herausgegeben, aber es ist hauptsächlich eine Sammlung von Fotos. Über Sara werden Sie darin nichts finden.«
»Ich nehme es trotzdem«, erklärte sie. Es wäre nur anständig, etwas zu kaufen, nachdem sie so lange die Zeit des Mannes in Anspruch genommen hatte. Er gab den Betrag in die Kasse ein, und sie zahlte.
»Danke«, sagte er und reichte ihr das Buch in einer Papiertüte.
»Ich habe zu danken. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
»Jederzeit gern«, erwiderte er und wandte sich wieder seinem Laptop zu.
Bereits zum Gehen gewandt, hielt Katherine noch einmal inne. »Sie glauben doch nicht daran, oder? An das, was Sara in ihrem Tagebuch geschrieben hat?«
Er legte schmunzelnd die Hände zusammen. »Ich glaube, die Menschen sehen das, was sie sehen wollen. Saras Geschichte – alles, was ihr angeblich widerfahren ist – klingt haarsträubend. Aber überlegen Sie mal: Wenn Sie einen Menschen verloren hätten, den Sie lieben, würden Sie dann nicht auch alles für die Chance geben, diesen Menschen noch einmal wiederzusehen?«
Die Glocke über der Tür bimmelte, als Katherine aus dem Laden ins Freie trat und sich auf den Heimweg machte. Sie hatte den Mantel bis obenhin zugeknöpft und sich den Schal so fest um den Hals gewickelt, dass er sie fast strangulierte.
»Ich hatte gehofft,
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