Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Ungewöhnliches an ihr festgestellt? Verletzungen, die vielleicht nicht von dem Sturz herrührten?«
Martin sah sie lange an. »Was genau willst du wissen, Sara?«
Sie holte tief Luft, den Kopf hoch erhoben. »Ich halte es für möglich, dass Gertie nicht in den Brunnen gefallen ist.«
»Aber Sara, wie erklärst du dir dann …«
»Ich habe den Verdacht, dass sie ermordet wurde.«
Martin wurde starr. Der Löffel glitt ihm aus den Fingern und fiel scheppernd zu Boden.
Nun ging ihm auf, wie sehr er sich geirrt hatte – es würde nicht alles gut werden. Ganz und gar nicht.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte er, sobald er seine Fassung zurückerlangt hatte.
»Es ist mein voller Ernst.«
»Auf welcher Grundlage …«
»Gertie hat es mir gesagt«, antwortete Sara mit einem Lächeln.
Alle Luft wich aus Martins Lungen, und das Zimmer verdunkelte sich. Auf einmal kam Sara ihm ganz klein vor, als wäre die gegenüberliegende Seite des Kiefernholztisches, an dem sie vor ihrer Schüssel Eintopf saß, meilenweit entfernt. Die Öllampe zwischen ihnen flackerte, das Feuer im alten gusseisernen Ofen knackte. Das Fenster über der Spüle war mit Raureif bedeckt, die Nacht dahinter schwärzer als schwarz. Man konnte nicht einmal die Sterne sehen.
Saras Gesicht, bleich wie der Mond, schien immer weiter zu schrumpfen. Martin streckte die Hand nach ihr aus, doch seine Fingerspitzen streiften nur die Tischkante.
Und auf einmal war ihm, als fiele er selbst, als trudele und stürze er unaufhaltsam immer tiefer und tiefer hinab bis auf den Grund des Brunnens.
Besucher von der anderen Seite
Das geheime Tagebuch der Sara Harrison Shea
26. Januar 1908
Heute Morgen wartete ich, bis Martin das Haus verlassen hatte, dann eilte ich zum Wandschrank. Ich klopfte an die Tür, tocktocktock , doch es kam keine Antwort.
»Gertie?«, rief ich. »Ich bin es, Mama.« Langsam drehte ich am Türknauf, der sich unter meinen Fingern kalt anfühlte. Die Tür öffnete sich mit einem Knarren. Im Dämmerlicht des Morgens sah ich, dass sie verschwunden war. Ich schob die Bügel mit meinen reizlosen Kleidern und Martins Hemden beiseite, konnte meine Kleine jedoch nirgends entdecken. Es gab keinen Hinweis darauf, dass sie jemals hier gewesen war.
Der Schrank sah so schrecklich leer aus.
»Gertie?«, rief ich erneut. »Wo bist du?«
Ich durchsuchte das Haus, die Scheune, die Felder und den Wald. Doch meine Gertie war eine Meisterin im Verstecken gewesen und hatte es vermocht, sich in die kleinsten, unmöglichsten Nischen zu zwängen. Sie hätte überall sein können. Vielleicht will sie spielen , dachte ich bei mir. Verstecken. Wieder und wieder steckte ich den Kopf um Ecken, öffnete Türen, spähte unter Möbel und wartete darauf, dass sie aus ihrem Versteck hervorspringen und mich erschrecken würde.
Buh.
Ich räumte gerade den Wandschrank im Eingangsflur aus, als Amelia am späten Vormittag eintraf.
»Tante Sara.« Sie begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange und betrachtete den Berg Mäntel und Schuhe, den ich aus dem Schrank geholt hatte. »Wie wundervoll zu sehen, dass es dir wieder bessergeht. Räumst du auf?«
»Ich fürchte, ich habe etwas verloren«, teilte ich ihr mit.
»Manchmal tauchen die Dinge ja gerade dann wieder auf, wenn man aufgehört hat, nach ihnen zu suchen«, sagte Amelia, und ihre Augen blitzten dabei. »Ist dir das nicht auch schon aufgefallen?«
»Da hast du wohl recht.«
»Und jetzt musst du mit mir zum Mittagessen kommen! Ich habe eine Überraschung für dich – etwas Wundervolles! Ich helfe dir dabei, die Sachen fortzuräumen, danach machen wir uns sofort auf den Weg.«
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte ich. Ich wollte das Haus nicht verlassen, für den Fall, dass meine Gertie zurückkehrte.
»Es dauert nur ein paar Stunden. Bestimmt wird es dir guttun. Onkel Martin denkt das auch. Obwohl du versprechen musst, ihm nichts von der Überraschung zu erzählen – ich glaube, er wäre sonst sehr böse mit mir!«
»Also schön«, gab ich nach. Ich wollte Gertie nicht allein lassen, war jedoch neugierig auf die Überraschung.
Die Fahrt in die Stadt war angenehm. Die Sonne schien, und Amelia hat eine wunderhübsche neue Kutsche mit roten Ledersitzen. Sie umsorgte mich, achtete darauf, dass mein Mantel bis obenhin zugeknöpft war, und breitete eine Decke über mich, als wäre ich eine Invalidin. Sie plauderte angeregt über dieses und jenes – mädchenhaftes Geplapper, das ungehört an mir
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