Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
meiner Stimme. Wie konnte er es wagen?
»Ich sorge mich um dich, Sara. Es geht dir nicht gut. Du bist nicht … du selbst.«
Ich lachte. »Nicht ich selbst?« Ich versuchte mich an die Sara zu erinnern, die ich vor Wochen gewesen war, als Gertie noch gelebt hatte. Es stimmte, ich war zu einem anderen Menschen geworden. Die Welt war aus den Angeln geraten. Meine Augen waren nun geöffnet.
»Lass uns heimgehen, damit du dich hinlegen kannst. Ich bitte Lucius, heute Abend vorbeizukommen und nach dir zu sehen.«
Er legte den Arm um mich, und ich zuckte zurück. Ich scheute die Berührung meines eigenen Ehemannes. Doch er hielt mich fest und lenkte mich, als wäre ich ein widerspenstiges Pferd.
Wir sprachen nicht, als wir an der Teufelshand vorbeikamen, den Hügel hinabstiegen, an den Bäumen entlang, über die Obstwiese und den Acker zurück nach Hause gingen. Dort führte er mich nach oben zu unserem Schlafzimmer.
»Ich weiß, dass du nachts nicht gut schläfst. Ein wenig Ruhe wird dir guttun«, sagte er. Seine Hand lag schwer auf meinem Arm. »Vielleicht haben dich der Ausflug in die Stadt und das Mittagessen mit Amelia überanstrengt.«
Als wir das Schlafzimmer betraten, sahen wir es.
Martin erstarrte. Seine Finger gruben sich in meinen Arm. Ich schnappte vor Schreck nach Luft wie ein kleines Kind.
Die Schranktür stand weit offen. Überall am Boden lagen Kleidungsstücke, als wäre ein Wirbelsturm durchs Zimmer gefegt. Näheres Hinsehen offenbarte, dass es sich ausschließlich um Martins Kleider handelte. Sie waren zerrissen, jedes einzelne bestand nur noch aus Fetzen. Martins Augen wurden riesengroß, in ihnen spiegelten sich Wut und Fassungslosigkeit. Ich sah zu, wie er sich bückte, den Ärmel seines guten weißen Sonntagshemds aufhob und die Finger so fest darum schloss, dass seine Faust zitterte.
»Wie konntest du nur so etwas tun, Sara?«
Das also sah er mittlerweile in mir: eine Wahnsinnige, die zu einem solchen Akt sinnloser Zerstörung fähig war.
»Das war ich nicht!«, rief ich verzweifelt. Ich schaute in den Wandschrank, doch er war leer.
Als Nächstes wandte ich mich zum Bett, weil ich auch darunter nachschauen wollte. Und dort, zwischen den Überresten von Martins Latzhose, lag ein Stück Papier, auf dem in kindlicher Schrift etwas geschrieben stand.
Frag Ihn, was Er auf dem Aker vergraben hat.
Ich hob das Stück Papier auf und hielt es ganz vorsichtig zwischen den Fingern, als wäre es ein verletzter Schmetterling. Martin riss es mir aus der Hand und las es. Er war bleich wie der Tod.
Ich starrte ihn an und dachte an Gerties letzten Morgen; wie sie das Haus verlassen hatte, um nach ihrem Vater zu suchen; wie sie seinen Fußspuren gefolgt war; wie Martins Kleider, als ich ihm Stunden später begegnete, voller Blut gewesen waren.
Ein schrecklicher Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an – er war so grauenhaft, so undenkbar, dass ich es nicht wage, ihn aufzuschreiben.
»Den Ring«, stammelte er und starrte mich über den Rand des Zettels hinweg an. »So wie du es mir gesagt hast.«
Doch da war dieses fast unmerkliche Zucken in den Muskeln um sein linkes Auge. Ich hatte es schon einmal an ihm bemerkt, kurz nach Weihnachten, als er beteuert hatte, den Ring auf dem Acker vergraben zu haben. Und nun sah ich es wieder, dieses kleine, unbewusste Zittern, und es verriet mir, dass er log.
4. Januar
Gegenwart
Katherine
Niemand wusste, wo die Eierfrau war.
Katherine lief die Sporthalle der Highschool mehrmals ab, entdeckte jedoch niemanden, der Eier verkaufte. Der Holzboden war mit Gummimatten ausgelegt, die ihn vor den nassen Stiefeln schützen sollten. Es war brechend voll, und die Stimmen der Menschen schwollen in Katherines Ohren zu einem ohrenbetäubenden Summen an. Leute in farbenfroher Winterkleidung rempelten gegen sie, riefen einander Begrüßungen zu, umarmten sich lachend. Eine verschworene Gemeinschaft, und sie war die Fremde im dunklen Kaschmirmantel, die wie ein Schatten zwischen ihnen umhergeisterte. Vor ihr ging eine Familie – Vater, Mutter und zwei Söhne. Einer der beiden schien etwa acht Jahre alt zu sein – genauso alt, wie Austin gewesen wäre, wenn er noch gelebt hätte. Der Junge bettelte seinen Vater an, ihm einen Cidre-Donut zu kaufen. Der Vater gab nach, brach den Donut in zwei Hälften und wies seinen Sohn an, ihn mit seinem jüngeren Bruder zu teilen. Der Junge zog einen hinreißenden Schmollmund, ehe er sich den halben Donut mit einem einzigen riesigen Bissen
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