Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
vorüberzog. Mein Blick war auf den Waldsaum entlang der Straße gerichtet. Ich hielt nach Bewegungen in den Schatten Ausschau, nach einem Lebenszeichen meiner kleinen Gertie.
»Hörst du mir zu, Tanta Sara?«
»Aber ja«, log ich. »Das ist alles ganz wundervoll.«
Daraufhin sah sie mich sehr sonderbar an, und ich dachte bei mir, dass ich mir mehr Mühe geben musste.
Als wir vor Amelias Haus eintrafen, wurden wir dort von vier mir unbekannten Damen erwartet. Sie waren sehr freundlich und überschwänglich. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Da waren eine Miss Knapp und eine Mrs Cobb aus Montpelier, eine Mrs Gillespie aus Barre und eine sehr alte Frau mit Vogelgesicht – Mrs Willard –, die nicht erwähnte, woher sie kam. Alle Frauen trugen wunderschöne Kleider und Hüte mit Spitzenbesatz und Federn.
»Amelia hat uns so viel von Ihnen erzählt«, flöteten sie, während sie mit mir ins Haus gingen und mich durch den Salon voller kunstvoll verzierter Möbel und Ölgemälde ins Speisezimmer führten. Dort war auf dem mit einem frisch geplätteten weißen Tuch gedeckten Esstisch eine schmackhafte Mittagsmahlzeit angerichtet: kleine, zu Dreiecken geschnittene Sandwichs, Kartoffelsalat, eingelegte Rote Bete. Die Teller waren aus feinem Knochenporzellan, die Kristallgläser mit sprudelnder Flüssigkeit gefüllt. Die Tapete im Speisezimmer war dunkelblau und mit Blumen verziert, die zu glitzern und zu funkeln schienen.
»Hat sie das?« Ich nahm Platz und begann mir etwas von dem Essen aufzutun, das man mir reichte. Währenddessen fragte ich mich, was Amelia sich nur dabei gedacht hatte. Wie war sie auf die Idee gekommen, mir könnte der Sinn nach so viel Geselligkeit stehen? Am liebsten hätte ich sie angefleht, mich nach Hause zurückzubringen, damit ich meine Suche nach Gertie fortsetzen konnte.
»In der Tat«, sagte die Jüngste, Miss Knapp, die nicht viel älter als achtzehn Jahre sein konnte.
Ich nahm mir ein Sandwich mit Geflügelsalat und biss eine winzige Ecke davon ab. Mein Mund war trocken, und das Kauen fiel mir schwer. Ich legte das Sandwich hin, nahm meine Gabel in die Hand und kostete ein Stück der Roten Bete. Es schmeckte scharf und metallisch wie Blut. Ich spürte die Blicke der anderen Frauen auf mir. Es war kaum auszuhalten.
»Aber sie ist nicht die Einzige, die uns von Ihnen berichtet hat«, warf die rotgesichtige Mrs Cobb ein, während sie Tee einschenkte. »Ist das nicht wahr, meine Damen?« Sie gluckste regelrecht bei diesen Worten, als hätte sie einen Scherz gemacht.
Die anderen nickten aufgeregt.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht recht«, gestand ich und legte meine Gabel auf den Porzellanteller. Sie machte ein schrecklich klirrendes Geräusch. Meine Hände begannen zu zittern.
Es war die alte Frau, Mrs Willard, die als Nächste das Wort ergriff. Sie saß mir gegenüber und maß mich mit starrem Blick. »Wir haben eine Botschaft für Sie.«
»Eine Botschaft?«, fragte ich und betupfte mir die Lippen mit einer gestärkten Serviette. »Von wem?«
»Von Ihrem Kind«, antwortete Mrs Willard. Die Blicke aus ihren dunklen Augen bohrten sich in meine. »Gertie.«
»Sie … Sie haben sie gesehen ?«, fragte ich. War meine Gertie etwa hierhin gegangen? Zu diesen Damen? Warum?
Mrs Cobb lachte leise, und ihre Wangen röteten sich noch mehr. »Gütiger Himmel, nein«, entgegnete sie. »Die Geister manifestieren sich nicht auf solche Weise.«
»Auf welche Weise dann?«, erkundigte ich mich.
»Das ist unterschiedlich«, sagte Amelia. »Wir treffen uns einmal im Monat und bitten alle anwesenden Geister, sich uns zu offenbaren. Manchmal rufen wir auch einen ganz bestimmten Geist herbei.«
»Aber wie kommunizieren sie denn mit Ihnen?«, wollte ich wissen.
»Indem sie auf den Tisch klopfen. Auf diese Weise sind sie sogar in der Lage, Fragen zu beantworten – einmal Klopfen bedeutet ja, zweimal Klopfen nein.«
Mir wurde die Kehle eng, als ich daran dachte, dass ich mich erst gestern mit meiner Gertie auf genau dieselbe Weise unterhalten hatte.
»Manchmal sprechen sie auch durch Mrs Willard zu uns«, fuhr Amelia in ihrer Erklärung fort. »Sie ist ein Medium, musst du wissen. Sie besitzt eine große Gabe.«
»Ein Medium?« Ich musterte die alte Frau, die die ganze Zeit den Blick nicht von mir abgewandt hatte.
»Die Toten sprechen zu mir. Schon als kleines Mädchen konnte ich ihre Stimmen hören«, erklärte sie. Ihre Augen waren so dunkel und beim längeren Hineinsehen so seltsam
Weitere Kostenlose Bücher