Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
diesmal überwindet. Trotzdem denke ich, dass wir uns überlegen sollten, was zu tun ist, falls sie es nicht überwindet. Falls es schlimmer wird. Denn es ist durchaus möglich, dass es schlimmer wird, Martin. Und es ist möglich, dass sie, wenn sie ganz und gar die Verbindung zur Realität verliert, zu einer Gefahr werden könnte.« Lucius erhob sich, ging zu den hölzernen Schubfächern und zog eins von ihnen auf. »Ich gebe dir Tabletten mit. Ich möchte, dass du jeden Abend eine zerstößt und sie ihr in den Tee rührst. Das wird ihr helfen, die Nacht durchzuschlafen und nicht mehr so viel zu träumen. Ich werde bald kommen und nach ihr sehen. Falls es ihr bis dahin schlechter geht, hol mich.«
Martin nickte.
»Ich meine es ernst, Martin. Glaub nicht, dass du es alleine schaffen kannst. Glaub nicht, dass du es musst.«
Als Martin heimkam, traf er Sara bei der Küchenarbeit an. Ein Eintopf köchelte auf dem Herd, sie hatte Brot aus dem Ofen geholt, und es duftete nach etwas Süßem – Martin sah sich um und stellte fest, dass Sara Sirupkekse gebacken hatte.
»Wie schön, dass du auf bist«, sagte er und küsste ihre Wange, die heiß und feucht war. »Das Abendessen sieht köstlich aus.«
Dass sie aufgestanden war und kochte – die Wangen rosig, ein kleines Lächeln auf den Lippen –, kam ihm geradezu wie ein Wunder vor. Er wünschte, Lucius wäre da, um es zu sehen.
In der vergangenen Nacht, als er sie vor dem Wandschrank auf dem Boden hatte sitzen sehen und sie behauptet hatte, Gertie sei zurückgekommen, hatte er sich schreckliche Sorgen gemacht. In solchen dunklen Momenten war er sicher, seine Sara endgültig verloren zu haben.
Und doch war tatsächlich etwas im Schrank gewesen, nicht wahr?
Etwas, das scharrte und herauswollte.
Mäuse. Vielleicht ein Eichhörnchen.
Und hatte er nicht gesehen, wie sich der Türknauf bewegt hatte?
Eine Sinnestäuschung , sagte er sich.
Er schob all diese Gedanken beiseite. Sie zählten nicht. Er hatte seine Sara wieder. Sie war genesen. Nun würde alles gut werden.
»In der Stadt habe ich Amelia getroffen. Sie will morgen vorbeikommen und dich zum Mittagessen zu sich einladen.«
»Wie schön«, erwiderte Sara. »Das ist wirklich schön.«
Martin nahm am Tisch Platz, legte sich die Serviette auf den Schoß und sah zu, wie Sara den Eintopf in eine Schüssel schöpfte und Brot und Butter zum Tisch trug.
Etwas an Saras Bewegungen kam ihm eigenartig vor: Sie waren schnell und ruckartig, fast wie bei einer Marionette. Sie wirkte übererregt, wie manchmal an Feiertagen. Er sah, wie sie sich hinsetzte und ein Stück Brot zu zerpflücken begann. Sie brach Krumen davon ab und ließ sie auf ihrem Teller liegen.
»Erzähl mir, wie unsere Gertie ausgesehen hat«, bat Sara. Ihre Augen glänzten im Lampenschein.
»Du weißt selbst, wie sie ausgesehen hat«, gab er zurück. Seine Haut begann zu kribbeln.
»Ich meine nicht vorher. Ich meine, als ihr sie am Grunde des Brunnens gefunden habt.«
Sie hatten Sara nicht gestattet, die Leiche zu sehen, weil sie gewusst hatten, dass sie dafür nicht stark genug wäre. Sie wäre in tausend Stücke zerbrochen, und niemand hätte sie jemals wieder zusammenfügen können.
»Ich will meine Kleine sehen«, hatte sie verlangt, doch Martin hatte daran gedacht, wie sie sich seinerzeit an den toten Charles geklammert hatte, und den Kopf geschüttelt.
»Nein, Sara«, hatte er gesagt, so fest, wie es ihm nur möglich gewesen war.
»Aber ich muss sie noch ein letztes Mal sehen«, hatte Sara geschrien. »Um Gottes willen, Martin, das musst du doch verstehen!«
»Sara.« Lucius hatte ihre Hand fest in die seine genommen. »Wir möchten, dass du Gertie so in Erinnerung behältst, wie sie war. Nicht so, wie sie jetzt ist. Du musst uns vertrauen. Es ist das Beste so.«
Nun blickte Martin mit gesenktem Kopf in seine Suppenschüssel, als könne er darin Gerties Bild sehen. »Sie sah ganz friedlich aus. So wie Lucius gesagt hat.«
Er schob sich einen Löffel voll Eintopf in den Mund und schluckte ihn hinunter.
»Hatte sie … irgendwelche Verletzungen?«
Martin hob den Kopf und blickte Sara in die Augen. »Natürlich hatte sie Verletzungen, Sara. Sie ist fünfzig Fuß tief in einen Brunnenschacht gestürzt.«
Er schloss die Augen und sah Gertie dort unten auf der Seite liegen, als wäre sie eingeschlafen.
Sara nickte. Zu hastig schnellte ihr Kopf dabei auf und ab. »Aber Lucius hat sie doch untersucht, nicht wahr? Hat er etwas …
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