Winterfest
Negativschlagzeilen über ein Versagen der Behörde führen können. Stattdessen wurde Christine Thiis dahin gehend zitiert, dass ein Fortschritt in den polizeilichen Untersuchungen zu einer detaillierten Suche in einem äußerst unzugänglichen Waldgelände geführt hatte, in derselben Gegend, in dem eine knappe Woche zuvor zwei Personen tot aufgefunden worden waren. Außer einer Bestätigung, dass der Fund eines toten Mannes von Ende zwanzig im Zusammenhang mit den laufenden Ermittlungen stand, war sie sehr zurückhaltend mit der Preisgabe von Informationen gewesen und hatte aus Rücksicht auf die Untersuchungen auch keinen Kommentar abgeben wollen, ob sie der Identifizierung der Opfer schon nähergekommen waren. Insgesamt gab der Artikel den Eindruck wieder, dass die Polizei in der Offensive war und vor einem baldigen Durchbruch stand. Das war genau so, wie Wisting es empfand.
»Wie geht’s den Kindern?«, fragte er und blätterte in einer der Zeitungen. Die Medien hatten auch immer noch die Vögel im Visier, die haufenweise tot vom Himmel fielen.
»Gut«, antwortete Christine Thiis. »Meine Mutter bleibt übers Wochenende.«
Sie besprachen die wichtigsten Ereignisse, dann gingen sie zu den anderen, die schon in dem großen Versammlungsraum warteten.
Auf dem Plan der Morgenbesprechung standen fünf Punkte. Wisting zog den letzten Punkt vor und bat Espen Mortensen um einen Hintergrundbericht zu dem Thema, das die Titelseiten der Zeitungen beherrschte.
»Dann nehmen wir mal das Wichtigste zuerst«, begann Mortensen und verteilte Kopien mit einer Skizze des Fundortes. »Der Tote wurde anhand seiner Fingerabdrücke identifiziert als Malte Ancher, neunundzwanzig, aus Aalborg. Er wird heute obduziert, aber ich nehme an, der Obduktionsbericht wird zu dem Ergebnis kommen, dass die Todesursache stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Kopf war und dass die Verletzungen von dem Sturz herrühren. Wir sprechen also von einem Unfall.«
»Wir haben Gunnar B. Hystad vernommen«, warf Torunn Borg ein.
»Wen?«
»Den Vogelbeobachter, der das Foto von dem anderen Dänen geschossen hat, Klaus Bang.«
Wisting nickte. Das war der Zeuge, den Line aufgegabelt hatte.
»Kurz gesagt läuft es darauf hinaus, dass das Boot fast den ganzen Samstag vor der Küste lag«, berichtete Torunn Borg. »Als ob er auf etwas oder jemanden wartete.«
Wistings Handy, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, vibrierte. Auf dem Display leuchtete die Nummer von Leif Malm auf. Er ließ es klingeln und bat Espen Mortensen, weiterzumachen.
»Unten in der Felsspalte haben wir außerdem eine schwarze Tasche gefunden. Sie war aufgeplatzt und Teile des Inhalts waren herausgefallen. Der Schnelltest, den wir gestern gemacht haben, deutet auf Kokain hin. Knapp unter zehn Kilo, wir haben es gewogen.«
»Wie die meisten mitbekommen haben, steht nun auch die Identität des Toten aus dem Ruderboot fest«, übernahm Wisting das Wort und leitete damit den zweiten Tagesordnungspunkt ein, den Bericht über seinen Besuch in Litauen. »Die offiziellen Aussagen werden übersetzt und kommen im Laufe des Tages«, sagte er zum Schluss.
Punkt drei umfasste Informationen, die auf Need-to-know-Niveau behandelt wurden. Obwohl allen Mitgliedern der Ermittlungsgruppe die Haupttheorie bekannt war, dass es sich bei dem Fall um eine Auseinandersetzung im Drogendealermilieu handelte, wurden die Informationen der Osloer Geheimdienstquelle nur in begrenztem Umfang weitergegeben. Wisting hatte außerdem den Eindruck, dass die Informationen, die er von Leif Malm erhielt, vorher gefiltert wurden.
Er blickte auf seine Stichworte, die er sich für die Tagesordnung notiert hatte, und fuhr fort: »Ihr kennt meine Tochter Line«, sagte er und hob den Blick. »Einige von euch wissen auch, dass sie in Oslo mit Tommy Kvanter zusammengelebt hat und dass er vor vielen Jahren wegen Drogendelikten im Gefängnis saß. Ich möchte, dass alle wissen, dass er ein Bekannter von Rudi Muller ist und dass beide Eigentümerinteressen am Shazam Station haben. Die Osloer Polizei, die den Kontakt zur Quelle unterhält und Rudi Muller überwacht, ist selbstverständlich ebenfalls darüber im Bilde. Die Beziehung zwischen Line und Tommy ist inzwischen beendet, und wie die Dinge liegen, betrachte ich mich nicht als befangen, aber ich werde mir dieses Problems auch weiterhin bewusst sein.«
Er blickte wieder auf seine Notizen.
Es tat weh, das zu sagen, aber gleichzeitig empfand er auch Erleichterung. Die
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