Winterfest
Ausrüstung ist schon unterwegs«, erwiderte Mortensen. »Wir installieren einen dreifüßigen Kran mit Handwinde über dem Spalt. Dann ziehen wir die Leiche auf ein Segeltuch und hieven sie heraus. Das ist jedenfalls der Plan.«
»Wann haben wir seine Identität?«
Mortensen lächelte. »Ich war schon unten und habe seine Fingerabdrücke gesichert. Ich scanne sie ein, sobald ich zurück bin. Malte Ancher ist in Dänemark erkennungsdienstlich registriert, aber ich denke nicht, dass wir vor Dienstbeginn morgen früh eine Antwort bekommen.«
Wisting nickte anerkennend. Bevor er den Fundort verließ, hielt er Ausschau Richtung Osten. Jetzt, nachdem das meiste Laub weg war, hatte man vom Felsplateau eine gute Aussicht. Dünner Nebel hing in der Luft, aber er konnte das Leuchtfeuer draußen bei Tvistein sehen, und das dahinter war vermutlich Jomfruland. Landeinwärts sah er vereinzelt Außenlampen an den verlassenen Hütten brennen. An manchen Stellen schien Licht aus den Fenstern. Die Konturen eines Ferienhauses, vermutlich das von Thomas R ø nningen, zeichneten sich vor dem Meer ab. Zur Linken sah er die Lichter der Hütte von Jostein Hammersnes. Er versuchte, die Hütte auszumachen, in der Line jetzt war, aber der Nebel wurde immer dichter. Schließlich gab er es auf und kehrte der Aussicht den Rücken zu.
60
Wisting spürte am ganzen Körper, dass er sich ausruhen musste, und beschloss, direkt nach Hause zu fahren, ohne vorher in der Polizeistation vorbeizuschauen. Vom Auto aus rief er Leif Malm an.
Der Geheimdienstchef in Oslo meldete sich sofort. Wisting berichtete kurz von dem dritten Leichenfund.
»Ich werde sehen, was ich mithilfe unserer Kanäle über ihn herausfinden kann«, sagte Malm. »Der Name sagt mir nichts, aber es muss eine Verbindungslinie zu Rudi Muller geben.«
»Irgendwas Neues hinsichtlich der Überfallpläne?«
»Nur dass der Überfall vermutlich kurz bevorsteht.«
»Was heißt das?«
»Tage. Wir haben die Unternehmensleitung von Nokas in Kenntnis gesetzt, aber so lange wir keine genaueren Anhaltspunkte über das Wann und Wie haben, können wir wenig tun. Vorläufig halten sie die Information vor ihren Angestellten zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im Unternehmen eine undichte Stelle gibt, ist hoch, und wir dürfen nichts riskieren. Die Fahnder haben Muller unter ständiger Beobachtung, wir werden rechtzeitig erfahren, wenn sich was tut.«
Wisting schwieg einen Moment, dann griff er das Thema auf, über das sie bei der Brandruine in Grorud gesprochen hatten.
»Irgendwann muss Tommy Kvanter vernommen werden«, sagte er und berichtete vom Ergebnis seines Besuchs in Vilnius. »Die Litauer bestätigen, dass das Auto, das er an jenem Abend gefahren hat, draußen am Tatort war.«
Es wurde so still am anderen Ende, dass Wisting befürchtete, die Verbindung sei unterbrochen. Als er gerade fragen wollte, ob Malm noch dran war, sagte dieser: »Ich glaube, es wäre unklug, das jetzt zu tun. Es würde verraten, wie dicht wir an ihnen dran sind. Bevor ihr so etwas macht, sollten wir die Bestätigung für Trond Holmbergs DNA haben. Das bringt ihn direkt mit eurem Tatort in Verbindung.«
Wisting musste den taktischen Überlegungen wohl oder übel zustimmen. Falls sie ihre Karten in der richtigen Reihenfolge ausspielen wollten, mussten sie Klaus Bang unter Kontrolle haben, bevor sie sich den Kreis um Rudi Muller vornahmen. Er konnte ohnehin nicht länger damit warten, die Ermittlungsgruppe zu informieren, das musste auf der nächsten Morgenbesprechung passieren.
Er beendete das Gespräch und hielt in der Einfahrt zu seinem Haus in der Herman Wildenveys gate. Die große Birke im Garten hatte noch mehr Blätter verloren, seit Suzanne Anfang der Woche ganze Schubkarren voll abgefahren hatte.
Er nahm seinen Koffer, ging ins Haus und wurde mit brennenden Kerzen und einer herzlichen Umarmung empfangen.
»Gut, dich wieder zu Hause zu haben«, sagte Suzanne.
»Gut, wieder zu Hause zu sein«, erwiderte er lächelnd und stellte sein Gepäck ab.
»Hast du Hunger?«
»Nein, ich habe an einer Tankstelle gegessen.«
Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Suzanne stellte den Fernseher leiser und wollte hören, wie es ihm ergangen war.
In seiner Erinnerung war Litauen grau und trist. Aber Vilnius war eine Stadt voller Gegensätze. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetdiktatur hatte das Volk viel von seiner Freiheit zurückbekommen und damit etwas bessere Möglichkeiten, sein Leben selbst in die Hand zu
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