Winterfest
losgeschrien, auf etwas eingeschlagen, ihrer Verzweiflung freien Lauf gelasen.
Die Kamera lag neben ihr auf dem Beifahrersitz. Sie legte sie auf den Schoß und betrachtete die Fotos, die sie am Munch-Museum gemacht hatte. Dann rief sie die Vergrößerungsfunktion auf und sah, dass die Beine des fremden Mannes das Autokennzeichen teilweise verdeckten. Sie würde später ein paar verschiedene Kombinationen ausprobieren und danach suchen.
Line vergrößerte die Tasche, die zwischen den beiden Männern stand, noch ein wenig mehr und erstarrte. Sie konnte sich irren, aber es sah so aus, als würde der Lauf einer Waffe herausragen.
65
Wisting hängte den Blazer über die Tür des Waffenschranks und nahm das Schulterholster heraus. Er legte den einen Riemen über die Schulter und befestigte ihn so, dass das Holster direkt unter der linken Brust lag. Dann holte er seine Dienstwaffe hervor. Heckler & Koch P30. Das Metall lag kalt in der klammen Hand.
Er zog das Magazin aus dem Schaft, legte beide Waffenteile auf die Bank und griff zur Munitionsschachtel. Er nahm neun Messingpatronen heraus und wog sie in der Hand, bevor er sie in das Magazin klemmte. Der Federwiderstand nahm zu, je mehr sich die Kammer füllte. Dann schob er das Magazin wieder in den Schaft. Ein metallisches Klicken sagte ihm, dass es eingerastet war. Metall glitt leicht und ölglatt über Metall, als er durchlud und eine Patrone in die Kammer schob. Dann sicherte er die Waffe, steckte sie ins Schulterholster und zog den Blazer wieder an.
Es war lange her, seit er die Pistole getragen hatte. Mit ei ner schnellen Bewegung öffnete er den Jackenschlag und zog die Waffe. Der Finger legte sich automatisch um den Abzug und Wisting suchte sich ein imaginäres Ziel am anderen Ende des Raums. Es war ein beruhigendes Gefühl, wie sicher die Pistole in der Hand lag. Er hatte es noch nicht verlernt.
Als er zurückkam, sah er, dass jemand einen verschlossenen Pappkarton mitten auf seinen Schreibtisch gestellt hatte. Darunter lag immer noch der Stapel mit ungelesenen Berichten und Notizen.
Wisting schob den Riemen zurecht, der das Holster trug, und hob den Karton an. Er trug keinerlei Aufschrift und wog fast nichts. Ein Gegenstand in seinem Innern rutschte von einer Seite zur anderen.
Er stellte den Karton ab und öffnete den Deckel. Beim Anblick des Inhalts schnitt er eine Grimasse. Es war ein toter Vogel mit einem spitzen gelben Schnabel und matten Augen. Die schwarzen Flügel waren vom Körper abgespreizt.
Er trat einen Schritt zurück, den Deckel in der Hand, und blickte sich um, als erwartete er, dass ihm jemand erklärte, was für einen Sinn es hatte, ihm eine Vogelleiche auf den Schreibtisch zu packen. Dann trug er die Schachtel hinaus auf den Flur und hörte Stimmen aus dem Besprechungsraum.
Espen Mortensen und Nils Hammer standen an der Kaffeemaschine.
»Wisst ihr, was das ist?«, fragte er und streckte ihnen die Schachtel hin.
»Ein toter Vogel?«, schlug Hammer vor und grinste.
»Und was macht der in meinem Büro?«
»Den habe ich da hingestellt«, lachte Mortensen. »Ich habe dir den Bericht gebracht. Du warst nicht da, also habe ich den Karton abgestellt und bin wieder raus, um mir einen Kaffee zu holen.«
»Was für einen Bericht?«
»Von der Veterinärhochschule. Ist per Fax gekommen. Hast du ihn nicht gelesen?«
Wisting schüttelte den Kopf.
»Sie haben mehrere der toten Vögel seziert«, erklärte Mortensen. »Die Vögel sind an Herzstillstand gestorben, nach multiplem Organversagen.«
»Was heißt das?«
»Sie wurden vergiftet.«
Wisting blickte auf den Vogel in der Schachtel, die er in der Hand hielt. »Gift?«, fragte er.
»Kokain.«
Da ging ihm der logische Zusammenhang auf, so wie einem Kind, das endlich eine einfache Rechenaufgabe verstanden hatte.
»Tod aufgrund einer Überdosis«, sagte Hammer.
Espen Mortensen pflichtete ihm bei: »Die körperliche Wirkung ist nahezu die gleiche: rasender Puls, hoher Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkt und Gehirnblutung.«
Wisting stieß dem jungen Kriminaltechniker den Karton vor die Brust. »Den kannst du Christine Thiis bringen«, sagte er. »Sie soll eine Pressemitteilung darüber herausgeben. Und anschließend kannst du den Beweis im Garten vergraben.«
66
Line hob den Blick vom Display ihrer Kamera. Sie hatte völlig vergessen zu atmen, und als ihr Atem wieder einsetzte, klang es wie ein kurzes, hartes Schluchzen.
Sie holte ein paar Mal tief Luft und betrachtete die
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