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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sie: «Komm raus, ich wichs dich ab. Ihr Kinder. Ihr wichst von morgens bis abends, aber wenn es ans Eingemachte geht, habt ihr keine Ahnung.» Also lässt du dich von ihr abwichsen, was exakt dasselbe ist, was du in den letzten drei Jahren immer selbst gemacht hast – mit einem kleinen Unterschied: besser ihre Hand als deine.
     
    Du bist nicht wieder hingegangen. Die nächsten anderthalb Jahre hast du weiter mit Pullovern, Blusen und BH s gehadert, hast weiter geküsst und gestreichelt und gegen die Peinlichkeit ungehöriger Ejakulationen angekämpft, um schließlich mit achtzehn das Kunststück fertigzubringen, die letzten zwei Highschool-Monate zu schwänzen, indem du zunächst fast den gesamten Mai mit Drüsenfieber im Bett verbracht hast und dann, drei Wochen vor dem Abschlussexamen, auf einem Schülerschiff nach Europa gereist bist. Die Schulleitung hat dir das erlaubt, weil du nicht nur gute Noten, sondern auch schon die Zulassung fürs College im Herbst hattest, und nachdem abgemacht war, dass du Anfang September zurückkommen und dein Examen nachholen würdest, ging es los. Flugzeuge waren 1965 ein teures Transportmittel, Schülerschiffe hingegen nicht, und da du mit deinem Geld haushalten musstest (Ersparnisse von Sommerjobs in den letzten zwei Jahren), entschiedst du dich für die S. S.
Aurelia
und die langsame, neuntägige Überfahrt von New York nach Le Havre. An Bord waren ungefähr dreihundert Schüler und Studenten, die meisten bereits seit ein oder zwei Jahren auf dem College, also etwas älter als du, und da ihr, während es im Schneckentempo über den Atlantik ging, wenig oder nichts zu tun hattet und die Zeit nur mit Schlafen und Essen, Büchern und Filmen hinbringen konntet, war es nur natürlich, von heute aus gesehen geradezu unausweichlich, dass die Gedanken von dreihundert Achtzehn- bis Einundzwanzigjährigen größtenteils um Sex kreisten. Langeweile und Nähe, das einlullend schöne Wetter auf See, die Gewissheit, dass man auf dem Schiff in einer Welt für sich lebte und nichts, was man dort tat, dauerhafte Konsequenzen haben konnte – all das zusammengenommen schuf eine Atmosphäre ungenierter Sinnlichkeit. Die Tändeleien begannen noch vor Sonnenuntergang des ersten Tages und gingen weiter, bis das Schiff zweihundert Stunden später in den Hafen einlief. Es war ein schwimmender Palast der Unzucht da draußen auf hoher See, dauernd verzogen sich Pärchen in abgedunkelte Kabinen, Mädchen und Jungen tauschten von einem Tag auf den andern die Partner, und zweimal im Lauf der Überfahrt bist du selbst mit einem Mädchen im Bett gelandet, beide klug und einfühlsam, nicht viel anders als die anständigen Mädchen, mit denen du in New Jersey aufgewachsen warst, aber diese zwei waren aus New York und hatten folglich mehr Erfahrung als die abweisenden Jungfrauen deiner Heimatstadt, und da die Anziehung auf beiden Seiten stark war, im ersten Fall zwischen dir und Renée, im zweiten Fall zwischen dir und Janet, hattet ihr keine Skrupel, euch auszuziehen, ins Bett zu steigen und auf eine Weise Liebe zu machen, wie es in jenem schäbigen Zimmer an der Upper West Side nicht möglich gewesen war, denn jetzt gehörten auch Küsse und Anfassen und echte Gefühle dazu, und das war der eigentliche Durchbruch, deine Einweihung in die Freuden, die es bereitet, wenn zwei Partner gleichermaßen an den Wonnen ausgedehnter Intimität teilhaben. Natürlich gab es noch viel zu lernen. Du warst ja erst Anfänger, aber immerhin auf dem Weg, immerhin wusstest du jetzt, dass es noch vieles gab, worauf du dich freuen konntest.
     
    Später, Anfang der siebziger Jahre in Paris, gab es lange Zeitspannen, wo du allein warst, Nacht für Nacht ohne den Körper einer Frau neben dir auf dem schmalen Bett deines kleinen Dienstmädchenzimmers, und manchmal hättest du in deiner frauenlosen Einsamkeit schier verrückt werden können, nicht nur aus Mangel an sexueller Erlösung, sondern aus Mangel an überhaupt jedem körperlichen Kontakt, und da du niemanden hattest, keine Frau, auf deren ersehnte Kameradschaft du dich verlassen konntest, bist du gelegentlich, vielleicht fünf- oder sechsmal in den Jahren, die du dort lebtest, auf der Suche nach einer Prostituierten durch die Seitenstraßen des inzwischen abgerissenen Viertels Les Halles gestreift, gleich bei dir um die Ecke, oder auch ein Stück weiter in der rue Saint-Denis und den Gassen, Durchgängen und Pflasterstraßen dieser Gegend, wo an Hauswänden und vor

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