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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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hôtels de passe
in langen Reihen die Frauen standen, ein Sortiment weiblicher Möglichkeiten, das die ganze Skala von gutaussehenden Mädchen Anfang zwanzig bis zu grob geschminkten Veteraninnen Mitte fünfzig umfasste, Huren in allen nur denkbaren Gestalten, Rassen und Farben, kugelrunde Französinnen, gertenschlanke Afrikanerinnen, üppige Italienerinnen und Israelinnen, manche aufreizend in Miniröcken, in tief ausgeschnittenen BH s und durchsichtigen Blusen, aus denen die Brüste hervorquollen, andere in Jeans und schlichten Pullovern wie die Mädchen, mit denen du in deiner Heimatstadt zur Schule gegangen warst, alle aber in Stöckelschuhen oder Stiefeln, schwarzen oder weißen Lederstiefeln, zuweilen mit einer Boa oder einem Schal um den Hals, ab und zu eine Domina in greller Lederkluft oder ein Pseudo-Schulmädchen in kariertem Rock und züchtiger weißer Bluse, für jeden Geschmack und jede Vorliebe war etwas dabei, und auf der Fahrbahn der autolosen Straßen die Männer, eine unabsehbare Prozession schweigender Männer, die auf den Bürgersteigen mit verstohlenen Blicken oder dreistem Hinstarren die ausgestellte Ware musterten, alle Arten von Frauen, die bereit waren, sich an alle Arten von Männern zu vermieten, an einsame Araber und ältere Freier in Anzügen, an die Scharen unbeweibter Einwanderer, frustrierter Studenten und gelangweilter Ehemänner, und warst du erst einmal Teil dieser Prozession, hattest du plötzlich das Gefühl, aus der Welt der Wachenden ausgetreten und in einen erotischen Traum geraten zu sein, der dich gleichzeitig erregte und verunsicherte, denn von der Vorstellung, dass du für hundert Franc (zwanzig Dollar) mit jeder dieser Frauen ins Bett gehen konntest, wurde dir schwindlig, körperlich schwindlig, und während du auf der Suche nach einer Gefährtin durch die Gassen schlichst, aus deinem Zimmer in dieses Labyrinth der Fleischeslust getrieben von dem Drang, deine Not zu lindern, hieltest du weniger nach Körpern als vielmehr nach Gesichtern Ausschau, oder genauer, erst nach Gesichtern, dann nach Körpern, nach einem hübschen Gesicht, dem Gesicht eines Menschenwesens, einer Frau, deren Augen noch nicht erloschen waren, deren Seele noch nicht komplett in der Anonymität und Künstlichkeit der Hurerei ertrunken war, und fast immer war deine Suche am Ende deiner fünf oder sechs Ausflüge in die absolut legalen, staatlich zugelassenen Rotlichtbezirke von Paris von Erfolg gekrönt. Keine schlechten Erfahrungen also, keine Begegnung, die du hinterher bereut oder bedauert hast, und wenn du heute daran zurückdenkst, scheint dir, du wurdest deshalb so gut behandelt, weil du kein alter Mann mit fetter Wampe und kein stinkender Arbeiter mit schmutzigen Fingernägeln warst, sondern ein friedfertiger, nicht unansehnlicher junger Mann von vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, der nichts Abartiges oder Unangenehmes von den Frauen verlangte, mit denen er nach oben ging, der einfach nur dankbar war, nicht allein im Bett liegen zu müssen. Andererseits wäre es falsch, irgendeine dieser Erfahrungen als denkwürdig zu bezeichnen. Ohne Umschweife, durchaus wohlwollend, aber vollkommen geschäftsmäßig in der Ausführung, eine für einen bestimmten Preis kompetent erbrachte Dienstleistung, aber da du kein linkischer grünschnäbliger Sechzehnjähriger mehr warst, hast du auch nichts anderes erwartet. Und doch, einmal geschah etwas Ungewöhnliches, einmal zündete tatsächlich ein Funke zwischen dir und deiner zeitweiligen Gefährtin, und zufällig war dies beim letzten Mal, dass du jemals eine Frau dafür bezahlt hast, mit dir zu schlafen, im Sommer 1972 , als du mit einem Job als Telefonist in der Pariser Filiale der
New York Times
ein wenig dringend benötigtes Geld verdientest, in der Nachtschicht, ungefähr von sechs Uhr abends bis ein Uhr morgens, Genaueres weißt du nicht mehr, jedenfalls bist du dort angekommen, wenn die Büroräume sich nach Feierabend zu leeren begannen, und hast dann allein an einem Pult gesessen, der einzige Mensch in der ansonsten dunklen Etage eines Gebäudes am rechten Seine-Ufer, hast auf das Klingeln des Telefons gewartet, das selten kam, und die ungestörte Stille dieser Stunden dazu genutzt, Bücher zu lesen und an deinen Gedichten zu arbeiten. Eines Nachts trittst du am Ende deiner Schicht aus dem Büro in die Sommerluft hinaus, die warme Umarmung der Sommerluft, und weil die Métro nicht mehr fährt, gehst du zu Fuß nach Hause, schlenderst kein bisschen

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