Winterjournal (German Edition)
zurande kommen, wenn sie jetzt keine Mutter mehr hat? Das reicht, findest du, das ist mehr als genug, ihren guten Willen und ihr Mitgefühl zu demonstrieren, und du hoffst, nach den nächsten ein oder zwei Sätzen auflegen zu können, denn dir fallen schon die Augen zu, dir ist hundeelend vor Erschöpfung, und wenn sie in ein paar Sekunden aufhören würde, hättest du keine Schwierigkeiten, auf der Stelle wieder in tiefen Schlaf zu sinken. Aber deine Kusine fängt gerade erst an, krempelt gewissermaßen die Ärmel auf und spuckt sich in die Hände, und dann erzählt sie dir fünf Minuten lang von ihren frühesten Erinnerungen an deine Mutter, die sie als Neunjährige zum ersten Mal sah, als deine Mutter selbst noch so jung war, zwanzig, höchstens einundzwanzig Jahre alt, und wie aufregend es war, eine so hübsche neue Tante in der Familie zu haben, eine so warmherzige und lebensfrohe Frau, und du hörst dir das weiter an, du hast nicht die Kraft, sie zu unterbrechen, und bald ist sie bei einem ganz anderen Thema, wie sie dort hingekommen ist, weißt du nicht, aber plötzlich hörst du ihre Stimme von deiner Raucherei sprechen, sie fleht dich an, damit aufzuhören, es für immer aufzugeben, sonst wirst du krank, sonst wirst du sterben, eines schrecklichen frühen Todes sterben, und während du stirbst, wirst du bitterlich bereuen, dich auf eine so gedankenlose Art
selbst ermordet
zu haben. Inzwischen ist sie seit neun oder zehn Minuten dabei, und langsam machst du dir Sorgen, nicht wieder einschlafen zu können, denn je länger sie redet, desto weiter wirst du aus deiner Bewusstlosigkeit gezogen, und wenn die Linie einmal überschritten ist, gibt es kein Zurück mehr. Zweieinhalb Stunden Schlaf sind zu wenig, das hältst du nicht durch, nicht in deinem Zustand, nicht mit noch so viel Alkohol im Blut, du wirst den ganzen Tag fix und fertig sein, aber so groß die Versuchung sein mag, einfach aufzulegen, kannst du dich nicht dazu aufraffen. Wie konntest du so naiv sein und dir einbilden, sie werde es bei ein paar freundlichen Worten und halb hysterischen Ermahnungen bewenden lassen? Noch gilt es den Charakter deiner Mutter abzuhandeln, und dass ihr Leichnam gerade erst vor zwei Tagen gefunden wurde und das Krematorium in New Jersey ihre Einäscherung für den heutigen Nachmittag anberaumt hat, hält deine Kusine nicht davon ab, gegen sie vom Leder zu ziehen. Achtunddreißig Jahre nachdem sie deinen Vater verlassen hat, ist die Litanei der Klagen über deine Mutter längst zum Kodex erhoben, die Sache ist fester Bestandteil der Familiengeschichte, aus altem Tratsch wurden unumstößliche Tatsachen, und warum nicht ein letztes Mal die Liste ihrer Missetaten durchgehen – ihr eine anständige Abreibung verpassen, zum Abschied auf dem Weg dorthin, wo sie es verdient hat? Nie zufrieden, sagt deine Kusine, immer auf der Suche nach etwas anderem, zu flatterhaft, das konnte ja nicht gutgehen, eine Frau, die nur dafür gelebt hat, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, sexbesessen, hurenhaft, mit jedem ins Bett, den eigenen Mann betrogen – was für ein Jammer, dass ein Mensch mit so vielen anderen, guten Eigenschaften ein solches Lotterleben führen musste. Du hattest schon immer den Verdacht, dass die angeheiratete Ex-Verwandtschaft deiner Mutter so von ihr redet, aber bis zu diesem Morgen hast du es noch nie mit eigenen Ohren gehört. Du murmelst etwas in den Hörer, legst auf und schwörst dir, mit dieser Kusine nie mehr ein Wort zu reden, kein einziges Wort mehr bis ans Ende deines Lebens. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Trotz der kolossalen Erschöpfung, die dich zu einem empfindungslosen Klumpen gemacht hat, ist zu viel in dir aufgewühlt worden, deine Gedanken rasen in alle Richtungen davon, Adrenalin schießt dir ins Blut, und deine Augen wollen sich nicht mehr schließen. Dir bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Bett zu steigen und den Tag zu beginnen. Du gehst nach unten und machst dir eine Kanne Kaffee, den stärksten, schwärzesten Kaffee, den du seit Jahren gemacht hast, denn du glaubst, eine gigantische Dosis Koffein werde dich in so etwas Ähnliches wie einen wachen Zustand versetzen, in einen halbwegs wachen Zustand, der dir erlaubt, schlafwandelnd durch den Rest des Vormittags und den frühen Nachmittag zu kommen. Du trinkst langsam die erste Tasse. Der Kaffee ist außerordentlich heiß und kann nur in winzigen Schlucken getrunken werden, aber dann kühlt er allmählich ab, und die zweite
Weitere Kostenlose Bücher