Winterjournal (German Edition)
Wisconsin zur Welt gekommen und als Siebenjähriger ohne Vater von dort weggegangen, nachdem deine Großmutter deinen Großvater in der Küche ihres Hauses erschossen hatte. Die Braut war die jüngere von zwei Töchtern, Frucht einer weiteren unüberlegten, unharmonischen Ehe
(Dein Vater wäre so ein wunderbarer Mann – wenn er nur anders wäre)
, sie hatte die Highschool abgebrochen, um zu arbeiten (als Sekretärin, später als Assistentin eines Fotografen), und hat dir nie viel von ihren früheren Liebschaften erzählt. Eine nebulöse Geschichte über einen Freund, der im Krieg gestorben war, eine noch nebulösere Geschichte über einen kurzen Flirt mit dem Schauspieler Steve Cochran, und das war auch schon alles. Ihren Highschool-Abschluss machte sie an der Abendschule nach (Commercial High), ging dann aber nicht aufs College; auch dein Vater war nicht auf dem College, er trat schon als Junge in die Arbeitswelt ein und verdiente sich, seit er mit achtzehn die Highschool abgeschlossen hatte, seinen Lebensunterhalt selbst. Das sind die bekannten Tatsachen, die wenigen nachprüfbaren Informationen, die dir überliefert wurden. Dann kommen die unsichtbaren Jahre, die ersten drei oder vier Jahre deines Lebens, der leere Zeitraum, aus dem nichts in deinem Gedächtnis geblieben ist und von dem du nichts zu berichten weißt als die verschiedenen Geschichten, die deine Mutter dir später erzählt hat: dass du mit sechzehn Monaten beinahe an einer Mandelentzündung gestorben bist ( 41 ° Fieber, und wie der Arzt zu ihr sagte:
Es liegt jetzt alles in Gottes Hand
), die Kapriolen deines launenhaften, ungehorsamen Magens, eine Erkrankung, die als Allergie oder Überempfindlichkeit gegen irgendetwas (Weizen? Gluten?) diagnostiziert wurde und dich zwang, zweieinhalb Jahre lang fast ausschließlich von Bananen zu leben (so viele Bananen in jener Zeit vor Einsetzen der Erinnerung verspeist, dass du noch heute vor ihrem Anblick und Geruch zurückschreckst und in den sechzig Jahren keine einzige mehr gegessen hast), der vorstehende Nagel in dem Newarker Kaufhaus, an dem du dir 1950 die Wange aufgerissen hast, deine bemerkenswerte Fähigkeit als Dreijähriger, Fabrikat und Modell jedes Autos auf der Straße zu benennen (bemerkenswert für deine Mutter, die darin ein frühes Zeichen großer Begabung sah), vor allem aber das Vergnügen, das sich dir mitteilte, wenn sie dir diese Geschichten erzählte, wie sie sich an der bloßen Tatsache deiner Existenz zu berauschen schien, und jetzt wird dir klar, der Grund dafür war ihre unglückliche Ehe, sie hat bei dir Trost gesucht, du hast ihrem Leben einen Sinn, einen Zweck gegeben, den es sonst nicht hatte. Du warst der Nutznießer ihres Unglücks, und du wurdest geliebt, besonders geliebt, zweifellos innig geliebt. Das steht vor allem, über und jenseits von allem anderen, was es zu sagen geben könnte: Sie war dir in deiner frühen Kindheit eine leidenschaftliche und hingebungsvolle Mutter, und was immer heute gut in dir sein mag, was immer du an Stärken besitzen magst, all das stammt aus der Zeit, bevor du dich erinnern kannst, wer du warst.
Ein paar frühe Erinnerungsfetzen, einzelne Inseln in einem ansonsten endlosen schwarzen Ozean. Du wartest, dass deine neugeborene Schwester mit deinen Eltern aus der Klinik kommt (Alter: drei Jahre und neun Monate), du spähst mit der Mutter deiner Mutter durch die Jalousie im Wohnzimmer und springst umher, als das Auto endlich vor dem Haus vorfährt. Deiner Mutter zufolge warst du ein begeisterter großer Bruder, kein bisschen eifersüchtig auf das Baby, das in eure Mitte getreten war, aber sie scheint die Sache auch recht klug gedeichselt zu haben, indem sie dich nicht ausgeschlossen, sondern zu ihrem
Helfer
gemacht hat, was dir die Illusion vermittelte, aktiv an der Betreuung deiner Schwester beteiligt zu sein. Einige Monate später wurdest du gefragt, ob du es mal mit dem Kindergarten versuchen möchtest. Du sagtest ja, ohne genau zu wissen, was ein Kindergarten ist, denn das war 1951 noch nicht so verbreitet wie heute, aber du hattest bereits nach einem Tag genug davon. Du erinnerst dich, wie du mit einer Gruppe anderer Kinder einkaufen spielen solltest, ihr solltet euch an einer Spielzeugkasse anstellen, und als du nach stundenlangem Warten, wie dir vorkam, endlich an der Reihe warst, solltest du mit Spielgeld eine Tüte voll Spielgemüse bezahlen. Du erzähltest deiner Mutter, der Kindergarten sei eine idiotische Zeitverschwendung, und
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