Winterjournal (German Edition)
Tasse trinkst du zügiger als die erste, die dritte zügiger als die zweite, und Schluck um Schluck ergießt sich die Flüssigkeit wie Säure in deinen leeren Magen. Du spürst, wie das Koffein deinen Puls beschleunigt, an deinen Nerven rüttelt und dich aufzupulvern beginnt. Jetzt bist du wach, hellwach und trotzdem noch müde, ausgelaugt, aber immer angespannter, und in deinem Kopf dröhnt ein Summen, das vorher nicht da war, ein tiefes mechanisches Brummen, ein Surren, ein Jaulen wie von einem fernen verstimmten Radio, und je mehr du trinkst, desto deutlicher spürst du, wie dein Körper sich verändert, desto weniger hast du das Gefühl, aus Fleisch und Blut zu sein. Du verwandelst dich in etwas Metallisches, einen rostigen Apparat, der menschliches Leben simuliert, ein aus Drähten und Sicherungen zusammengebasteltes Ding, aus gewaltigen Schaltkreisen, gesteuert von wahllosen Stromstößen, und nachdem du die dritte Tasse Kaffee geleert hast, schenkst du dir noch eine ein – die letzte, wie sich zeigt, die tödliche. Die Attacke beginnt gleichzeitig von innen und außen, plötzlich das Gefühl, der Luftdruck nehme zu, etwas Unsichtbares versuche dich durch den Stuhl zu stoßen und auf den Boden zu schleudern, zugleich aber eine unirdische Leichtigkeit in deinem Kopf, ein schwindelerregendes Klirren an der Innenwand deines Schädels, und die ganze Zeit dringt weiter das Außen auf dich ein, während das Innen sich leert und immer dunkler und leerer wird, als ob du jeden Moment in Ohnmacht fallen wirst. Dein Puls fängt an zu rasen, du spürst, wie das Herz dir aus der Brust zu springen versucht, und gleich darauf ist keine Luft mehr in deiner Lunge, du kannst nicht mehr atmen. Und jetzt gerätst du in Panik, jetzt schaltet dein Körper ab, und du stürzt zu Boden. Du liegst auf dem Rücken, fühlst das Blut in deinen Adern rinnen, und langsam, aber sicher erstarren deine Gliedmaßen zu Beton. Und du beginnst zu schreien. Du bist aus Stein, du liegst im Esszimmer auf dem Boden, starr, mit offenem Mund, zu keiner Bewegung fähig, zu keinem Gedanken, und du schreist vor Entsetzen und wartest nur noch darauf, dass dein Körper in den tiefen schwarzen Wassern des Todes versinkt.
Du konntest nicht weinen. Du konntest nicht trauern, wie Leute es normalerweise tun, also ist dein Körper zusammengebrochen und hat das Trauern für dich erledigt. Ohne die verschiedenen Begleitumstände im Vorfeld der Panikattacke (die Abwesenheit deiner Frau, der Alkohol, der Schlafmangel, der Anruf deiner Kusine, der Kaffee) wäre es vielleicht nie zu diesem Ausbruch gekommen. Aber letztlich ist das alles nur von untergeordneter Bedeutung. Die Frage ist, warum du dich in den Minuten und Stunden unmittelbar nach dem Tod deiner Mutter nicht hast gehenlassen können, warum du zwei volle Tage lang unfähig gewesen bist, Tränen um sie zu vergießen. War ein Teil von dir etwa insgeheim froh, dass sie tot war? Ein finsterer Gedanke, ein so finsterer und beunruhigender Gedanke, dass es dir Angst macht, ihn auch nur zu formulieren, aber selbst angenommen, du seist bereit, die Wahrheit dieses Gedankens in Erwägung zu ziehen, bezweifelst du immer noch, dass dies deine Unfähigkeit zum Weinen erklären würde. Du hast auch nach dem Tod deines Vaters nicht geweint. Auch nicht nach dem Tod deiner Großeltern oder nach dem Tod deiner Lieblingskusine, die mit achtunddreißig an Brustkrebs starb, oder nach dem Tod der vielen Freunde, die dich im Lauf der Jahre verlassen haben. Nicht einmal mit vierzehn, als du keinen halben Meter von einem Jungen entfernt gestanden hattest, der von einem Blitz getroffen und getötet wurde, dem Jungen, neben dessen Leiche du eine Stunde lang auf einer regendurchweichten Wiese gesessen und gewacht hast, den du verzweifelt zu wärmen und wiederzubeleben versucht hast, weil du nicht begreifen konntest, dass er tot war – nicht einmal dieser schreckliche Tod hat dir eine einzige Träne entlockt. Du bekommst feuchte Augen, wenn du bestimmte Filme siehst, deine Tränen sind auf die Seiten zahlloser Bücher getropft, du hast in Momenten großen privaten Kummers geweint, aber der Tod lässt dich erstarren, er schaltet dich ab, kappt jegliche Emotion, jegliche Gemütsbewegung, jegliche Verbindung zu deinem Herzen. Von Anfang an bist du im Angesicht des Todes abgestorben, und so ist es dir auch beim Tod deiner Mutter ergangen. Zumindest für die erste kurze Zeit, die ersten zwei Tage und Nächte, dann aber schlug der Blitz
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