Winterjournal (German Edition)
ihrem Haus im nahegelegenen Glen Ridge herübergekommen ist, um dir zur Seite zu stehen, die Tochter des einzigen Bruders deines Großvaters, fünf oder sechs Jahre jünger als deine Mutter, deine Kusine zweiten Grades und eine der wenigen auf beiden Seiten der Familie, mit denen du dich näher verbunden fühlst, eine Künstlerin, Witwe eines Künstlers, die junge unkonventionelle Frau, die Anfang der fünfziger Jahre aus Brooklyn davonlief, um im Village zu leben, und sie bleibt den ganzen Tag bei dir, sie und ihre erwachsene Tochter Anna, die beiden helfen dir, die Habseligkeiten und Papiere deiner Mutter zu sichten, beratschlagen sich mit dir, während du zu entscheiden versuchst, was du jetzt in Sachen deiner Mutter zu tun hast, die kein Testament hinterlassen und nie davon gesprochen hat, was nach ihrem Tod zu geschehen habe (Beerdigung oder Einäscherung, Trauerfeier oder keine Trauerfeier), helfen dir beim Erstellen einer Liste all der Dinge, die jetzt eher früher als später zu erledigen sein werden, und am Abend, nach einem Essen im Restaurant, nehmen sie dich mit in ihr Haus und zeigen dir das Gästezimmer, wo du die Nacht verbringen kannst. Deine Tochter ist bei Freunden in Park Slope, deine Frau bei ihren Eltern in Minnesota, und nachdem du lange mit ihr telefoniert hast, kannst du nicht einschlafen. Du hast eine Flasche Scotch gekauft, die soll dir Gesellschaft leisten, und du sitzt bis drei oder vier Uhr morgens unten in einem Zimmer, trinkst die halbe Flasche Oban aus und versuchst über deine Mutter nachzudenken, bist aber immer noch zu benommen und bekommst kaum einen Gedanken zu fassen. Wirre Gedanken, zusammenhanglose Gedanken, und immer noch keine Tränen, kein Zusammenbruch, kein Ansatz zu ernsthaftem Kummer und Schmerz um deine Mutter. Vielleicht hast du Angst vor dem, was mit dir geschehen wird, wenn du dich gehenlässt, dass du, wenn du dir einmal zu weinen erlaubst, nicht mehr wirst aufhören können, dass der Schmerz dich überwältigen und in Stücke reißen wird, und weil du nicht riskieren willst, die Kontrolle über dich zu verlieren, drückst du den Schmerz nieder, verschlingst ihn, begräbst ihn tief in deinem Herzen. Deine Frau fehlt dir, sie fehlt dir mehr als jemals, seit ihr geheiratet habt, denn sie ist die Einzige, die dich gut genug kennt, um die richtigen Fragen zu stellen, die genug Verständnis und Selbstvertrauen hat, dich zu animieren, Dinge über dich selbst zu offenbaren, von denen du oft kaum selbst etwas weißt, und wie viel besser wäre es, jetzt neben ihr im Bett zu liegen, statt um drei Uhr morgens allein mit einer Flasche Whisky in einem dunklen Zimmer zu sitzen. Am nächsten Morgen kümmern sich deine Kusinen weiter um dich und helfen dir bei den anstehenden Aufgaben: Besuch beim Bestatter, Aussuchen der Urne (du hast dich mit deiner Frau, der Schwester deiner Mutter und deiner Kusine beraten, und ihr habt euch auf Einäschern geeinigt, keine Trauerfeier, nur ein Gedenkgottesdienst irgendwann nach dem Sommer), Telefonate mit dem Immobilienmenschen, dem Automenschen, dem Möbelmenschen, dem Fernsehmenschen, mit all den Leuten, an die man sich wenden muss, wenn man etwas verkaufen, abschalten lassen oder loswerden will, und nach einem langen, im trostlosen Grauen des
Nichts
versunkenen Tag fahren sie dich zu deinem Haus in Brooklyn zurück. Dort nehmt ihr mit deiner Tochter eine unterwegs gekaufte Mahlzeit ein, du bedankst dich bei Regina, sie habe dir
das Leben gerettet
(wortwörtlich, denn du weißt wirklich nicht, was du ohne sie getan hättest), und nachdem sie gegangen sind, bleibst du noch eine Weile auf und sprichst mit deiner Tochter, aber irgendwann geht sie nach oben und legt sich schlafen, und kaum bist du wieder allein, widerstehst du aufs Neue der Lockung des Schlafs. Die zweite Nacht ist eine Wiederholung der ersten: allein in einem dunklen Zimmer mit derselben Flasche Scotch, die du diesmal bis zur Neige leerst, und immer noch keine Tränen, keine zusammenhängenden Gedanken, keine Lust, es genug sein zu lassen und dich hinzulegen. Endlich, nach vielen Stunden, überwältigt dich die Müdigkeit, und als du um halb sechs ins Bett fällst, dämmert es draußen schon, und die Vögel haben angefangen zu singen. Du nimmst dir vor, so lange zu schlafen wie möglich, zehn oder zwölf Stunden, falls dir das gelingt, denn du weißt, Vergessen ist das Einzige, was dir jetzt helfen kann, aber kurz nach acht, kaum dass du zweieinhalb Stunden geschlafen hast, und
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