Winterjournal (German Edition)
geschlafen hast, wie nur Betrunkene schlafen können –
profondamente, stupidamente
–, läutet das Telefon. Befände sich das Telefon am anderen Ende des Zimmers, würdest du es vermutlich gar nicht hören, aber es steht nun einmal auf dem Nachttisch direkt neben deinem Kopfkissen, keine dreißig Zentimeter von deinem Kopf entfernt, fünfundzwanzig Zentimeter von deinem rechten Ohr, und nachdem es zigmal geläutet hat (wie oft genau, wirst du niemals wissen), machst du unwillkürlich die Augen auf. In diesen ersten, halb bewusstlosen Sekunden verstehst du nur eins: Noch nie hast du dich so schlecht gefühlt, dein Körper ist nicht mehr das, was du sonst deinen Körper zu nennen pflegst, dieses neue und fremde physische Ich wurde von hundert Holzhämmern weich geklopft, von Pferden hundert Meilen weit über Stock und Stein geschleift und von einer Hunderttonnenramme zu Staub gestampft. Dein Blut ist so mit Alkohol gesättigt, dass du riechen kannst, wie er dir aus den Poren dringt, das ganze Zimmer stinkt nach schlechtem Atem und Whisky – abscheulich, widerlich, ekelhaft. Wenn du jetzt etwas haben willst, wenn du jetzt einen Wunsch frei hättest, und wenn du dafür zehn Jahre deines Lebens hergeben müsstest, dann wäre es dies: einfach die Augen zumachen und weiterschlafen zu dürfen. Und doch, aus Gründen, die dir niemals begreiflich sein werden (Macht der Gewohnheit? Pflichtgefühl? Die Überzeugung, der Anrufer sei deine Frau?), wälzt du dich rüber, streckst den Arm aus und nimmst den Hörer ab. Es ist eine deiner Kusinen, eine Kusine ersten Grades von deines Vaters Seite der Familie, zehn Jahre älter als du, eine streitsüchtige, selbsternannte Sittenwächterin, die letzte Person auf der Welt, mit der du reden möchtest, aber nachdem du jetzt den Hörer abgenommen hast, kannst du nicht gut einfach wieder auflegen, nicht, während sie redet und redet und redet und dich praktisch überhaupt nicht zu Wort kommen lässt, dir keine Chance lässt, ihr in die Rede zu fallen und das Gespräch zu beenden. Wie ist es möglich, fragst du dich, wie kann ein Mensch nur dermaßen schnell daherquatschen? Als hätte sie geübt, beim Sprechen nicht zu atmen, ganze Absätze in einem einzigen ununterbrochenen Ausatmen hervorzusprudeln, schier endlose Tiraden ohne Punkt und Komma und ohne das Bedürfnis, einmal anzuhalten und Luft zu holen. Sie muss gewaltige Lungen haben, denkst du, die größten Lungen der Welt, und dazu eine enorme Ausdauer, einen enormen Drang, immer das letzte Wort zu behalten. Du und diese Kusine, ihr hattet schon häufig Streit, das erste Mal 1982 nach der Veröffentlichung von
Die Erfindung der Einsamkeit
, ein Buch, das ihrer Ansicht nach einen Verrat von Familiengeheimnissen der Austers darstellte (deine Großmutter hat 1919 deinen Großvater ermordet), und von da an wurdest du von ihr geächtet, so wie deine Mutter von ihr geächtet wurde, nachdem sie und dein Vater sich hatten scheiden lassen (genau deshalb hast du dich gegen eine Trauerfeier für sie entschieden – damit du gewisse Mitglieder dieses Klans nicht einzuladen brauchst), andererseits ist diese Kusine aber nicht dumm, sie hat das College
summa cum laude
abgeschlossen, sie ist Psychologin und führt eine große, gutgehende Praxis, eine aufgeschlossene, tatkräftige Frau, die immer Wert darauf legt, dir zu erzählen, wie viele ihrer Freunde deine Romane lesen, und es stimmt auch, dass sie im Lauf der Jahre mehrmals versucht hat, euer Verhältnis zu kitten, den Schaden zu beheben, den ihr heftiger Ausbruch gegen dein Buch vor zwei Jahrzehnten angerichtet hat, aber selbst wenn sie beteuert, sie bewundere dich, hegt sie noch immer einen Groll gegen dich, eine Feindschaft, die auch ihre freundschaftlichen Annäherungsversuche nicht übertünchen können, nichts davon ist ganz das eine oder das andere, und es lasten noch andere Erschwernisse auf eurer Beziehung, denn sie ist nicht bei guter Gesundheit, sie muss sich seit einiger Zeit einer Krebsbehandlung unterziehen, und natürlich hat sie dafür dein Mitgefühl, und da sie es nun einmal auf sich genommen hat, dich anzurufen, beschließt du, das positiv zu sehen, ihr dieses kurze, oberflächliche Gespräch zu gestatten und dich dann wieder schlafen zu legen. Sie beginnt mit dem, was man in einer solchen Situation zu sagen pflegt. Wie plötzlich, wie unerwartet, wie unvermittelt dich das getroffen haben muss, und denk an deine Schwester, deine arme schizophrene Schwester, wie wird sie
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