Winterjournal (German Edition)
abermals zu und versengte dich.
Vergiss, was deine Kusine am Telefon gesagt hat. Du warst wütend auf sie, ja, entsetzt, dass sie so tief sinken und zu einer so unpassenden Zeit mit Dreck um sich werfen konnte, empört über ihre Gemeinheit, ihre scheinheilige Verachtung für eine Frau, die ihr nie ein Haar gekrümmt hatte, andererseits waren ihre Untreuevorwürfe gegen deine Mutter ein alter Hut, zumal du selbst schon seit langem den Verdacht hattest – ohne es beweisen zu können, ohne handfeste Argumente dafür oder dagegen vorbringen zu können –, dass deine Mutter während ihrer Ehe mit deinem Vater fremdgegangen sein
könnte
. Bei diesem Telefonat mit deiner Kusine warst du fünfundfünfzig Jahre alt, hattest also Zeit genug gehabt, über die Einzelheiten der unglücklichen Ehe deiner Eltern nachzudenken, und im Grunde sogar gehofft, deine Mutter habe bei einem anderen Mann (oder Männern) ein wenig Trost gefunden. Aber es gab keine Gewissheit, nur ein einziges Mal, mit zwölf oder dreizehn, hast du undeutlich mitbekommen, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte, und das hat damals einen sehr verstörenden Eindruck bei dir hinterlassen: Eines Tages kommst du nach der Schule nach Hause, denkst, es sei sonst keiner da, greifst zum Telefon, um jemanden anzurufen, und hörst die Stimme eines Mannes in der Leitung, eine Stimme, die nicht die deines Vaters ist und die nichts anderes sagt als
Bis bald
, eine vollkommen neutrale Redewendung, mag sein, aber in sehr zärtlichem Ton gesprochen, und dann sagt deine Mutter
Bis bald, Schatz
. Damit war das Gespräch beendet. Du hattest keine Ahnung, worum es ging oder wer der Mann war, du hattest so gut wie nichts gehört, und doch hast du dir tagelang solche Sorgen gemacht, dass du schließlich den Mut aufgebracht und deine Mutter danach gefragt hast, sie, von der du glaubtest, sie sei bisher immer offen und ehrlich zu dir gewesen, die sich noch nie geweigert hatte, deine Fragen zu beantworten, aber diesmal, dieses eine Mal, als du ihr erzähltest, was du gehört hattest, schien sie erschrocken, als hättest du sie bei etwas ertappt, fing dann aber gleich an zu lachen und sagte, sie könne sich nicht erinnern, sie wisse nicht, wovon du redest. Natürlich konnte es sein, dass sie sich nicht erinnerte, dass jenes Telefongespräch belanglos gewesen war und du den zärtlichen Abschiedsworten eine falsche Bedeutung beigemessen hattest, dennoch blieb ein gewisses Misstrauen zurück, das sich in den Wochen und Monaten danach zwar verflüchtigte, dann aber, als vier oder fünf Jahre später deine Mutter erklärte, sie werde deinen Vater verlassen, wieder auflebte und dich an jene zufällig mitgehörten Worte zurückdenken ließ. Spielte das eine Rolle? Nein, nicht dass du wüsstest. Dass deine Eltern sich trennen würden, stand schon seit dem Tag ihrer Hochzeit fest, und ob deine Mutter mit dem Mann, den sie
Schatz
nannte, geschlafen hatte, ob es einen anderen Mann oder mehrere Männer oder überhaupt keinen Mann gegeben hatte, war für die Scheidung völlig bedeutungslos. Symptome sind keine Ursachen, und was auch immer deine Kusine an hässlichen kleinen Gedanken gegen deine Mutter gehegt haben mag, gewusst hat sie jedenfalls nichts. Unbestreitbar ist hingegen, dass ihr Anruf mit zu deiner Panikattacke beigetragen hat – der Zeitpunkt des Anrufs, die Umstände des Anrufs –, aber was sie dir an jenem Morgen zu sagen hatte, war schon seit langem gegenstandslos.
Allerdings weißt auch du selbst so gut wie nichts, obwohl du doch immerhin ihr Sohn warst. Zu viele Lücken, zu viel Schweigen und Ausflüchte, zu viele im Lauf der Jahre verlorengegangene Fäden, um daraus noch eine zusammenhängende Geschichte zu stricken. Zwecklos also, von außen über sie zu reden. Was immer erzählt werden kann, muss von innen kommen, aus deinem Inneren, aus der Sammlung von Erinnerungen und Wahrnehmungen, die du in deinem Körper mit dir herumträgst – und die dich aus ewig unerfindlichen Gründen in deinem Esszimmer zu Boden geworfen haben, nach Luft schnappend und deines unmittelbar bevorstehenden Todes gewiss.
Eine übereilte, unüberlegte Hochzeit, eine überstürzte Verbindung zweier nicht zusammenpassender Menschen, der schon vor dem Ende der Flitterwochen die Luft ausgegangen war. Ein einundzwanzigjähriges Mädchen aus New York (geboren und aufgewachsen in Brooklyn, mit sechzehn nach Manhattan versetzt) und ein vierunddreißigjähriger Junggeselle aus Newark, in
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