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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Geburtstage daher immer zusammen gefeiert, und noch jetzt, fast neun Jahre nach ihrem Tod, denkst du jedes Mal an sie, wenn die Uhr vom zweiten auf den dritten Februar umspringt. Was für ein unwahrscheinliches Geschenk du in dieser Nacht vor vierundsechzig Jahren gewesen sein musst: ein kleiner Junge zum Geburtstag, eine Geburt zur Feier ihrer Geburt.
     
    Mai 2002 . Am Samstag das lange, lebhafte Telefongespräch mit deiner Mutter, und wie du danach zu deiner Frau sagst: «So glücklich hat sie sich seit Jahren nicht mehr angehört.» Am Sonntag reist deine Frau nach Minnesota ab. Für das nächste Wochenende ist eine große Feier zum achtzigsten Geburtstag ihres Vaters geplant, und sie fährt nach Northfield, um ihrer Mutter bei den Vorbereitungen zu helfen. Du bleibst mit eurer Tochter in New York, sie ist vierzehn und muss zur Schule, aber natürlich werdet ihr zwei ebenfalls zu der Party nach Minnesota fliegen, eure Tickets sind für Freitag gebucht. Du hast bereits ein lustiges gereimtes Gedicht zu Ehren deines Schwiegervaters geschrieben – die einzige Art von Gedichten, die du noch schreibst: neckische Spielereien zu Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Familienfesten. Der Montag kommt und geht, alles, was an diesem Tag geschieht, ist aus deinem Gedächtnis gelöscht. Am Dienstag hast du um eins einen Termin mit einer Französin, sie ist Mitte zwanzig, lebt seit einigen Jahren in New York und soll im Auftrag eines französischen Verlags einen Stadtführer schreiben, und da dir diese Frau sympathisch ist und du sie für eine verheißungsvolle Schriftstellerin hältst, hast du dich einverstanden erklärt, mit ihr über New York zu reden, skeptisch, dass du ihr irgendetwas Brauchbares für ihr Projekt erzählen kannst, aber bereit, es immerhin zu versuchen. Um zwölf stehst du mit Rasierschaum im Gesicht vor dem Spiegel im Bad und willst gerade nach dem Rasierer greifen, um dich für das Interview salonfähig zu machen, doch bevor du auch nur ein einziges Barthaar in Angriff nehmen kannst, läutet das Telefon. Du gehst ins Schlafzimmer, greifst nach dem Hörer und versuchst ihn mehr oder weniger geschickt so zu halten, dass er nicht mit Rasierschaum in Berührung kommt, und dann vernimmst du ein Schluchzen, die Anruferin ist vollkommen außer sich, und nach und nach begreifst du, das ist Debbie, die junge Frau, die einmal wöchentlich die Wohnung deiner Mutter putzt und sie gelegentlich zum Einkaufen fährt, und Debbie erzählt dir jetzt, sie sei gerade in die Wohnung gekommen und habe deine Mutter auf dem Bett gefunden, deine Mutter leblos auf dem Bett, deine Mutter tot auf dem Bett. Dein Inneres scheint aus dir auszulaufen, als die Nachricht in dich einsickert. Du fühlst dich leer, ausgehöhlt, kannst keinen Gedanken fassen, und auch wenn du damit jetzt am allerwenigsten gerechnet hättest
(So glücklich hat sie sich seit Jahren nicht mehr angehört)
, überrascht es dich nicht, das jetzt von Debbie zu hören, es bestürzt dich nicht, schockiert dich nicht, erschüttert dich nicht. Was ist mit dir?, fragst du dich. Gerade ist deine Mutter gestorben, und du hast dich in einen Holzklotz verwandelt. Du sagst Debbie, sie solle bleiben, wo sie ist, du kämst so schnell wie möglich (Verona, New Jersey – gleich neben Montclair), und anderthalb Stunden später bist du in der Wohnung deiner Mutter und siehst ihren Leichnam auf dem Bett. Du hast schon einige Leichen gesehen, du bist vertraut mit der Reglosigkeit der Toten, mit der unmenschlichen Stille, die die Körper der nicht mehr Lebenden umhüllt, aber keine dieser Leichen war deine Mutter, keiner dieser toten Körper war der Körper gewesen, in dem dein eigenes Leben angefangen hat, und du kannst nur wenige Sekunden hinsehen, dann wendest du dich ab. Die bläuliche Blässe ihrer Haut, ihre halb geschlossenen, auf nichts gerichteten Augen, ein ausgelöschtes Ich in Nachthemd und Morgenmantel auf dem Bett, neben ihr ausgebreitet die Sonntagszeitung, ein nacktes Bein über der Bettkante, in ihrem Mundwinkel ein Speicheltropfen, weiß und angetrocknet. Du kannst sie nicht ansehen, du wirst sie nicht ansehen, es ist dir unerträglich, sie anzusehen, und selbst nachdem die Sanitäter sie in einem schwarzen Leichensack aus der Wohnung geschoben haben, empfindest du weiterhin nichts. Keine Tränen, kein verzweifelter Aufschrei, keine Trauer – nur ein vages Entsetzen, das in dir aufsteigt. Inzwischen ist deine Kusine Regina da, die Kusine deiner Mutter, die von

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