Winterjournal (German Edition)
jeweils im Haus eines anderen Mitglieds; geleitet wurden diese Versammlungen von einer sich abwechselnden Gruppe von drei oder vier Frauen, den sogenannten Höhlenmüttern, eine davon deine eigene Mutter, woran sich zeigt, dass ihre Arbeit als Grundstücksmaklerin nicht so erdrückend war, dass sie es sich nicht leisten konnte, gelegentlich einen Nachmittag freizunehmen. Du erinnerst dich, wie sehr du dich gefreut hast, sie in ihrer marineblauen Höhlenmutteruniform zu sehen (wie absurd das war, wie ungewöhnlich), und du erinnerst dich auch, dass sie die bei den Jungen beliebteste Höhlenmutter war, denn sie war die jüngste und schönste aller Mütter, die unterhaltsamste, die entspannteste, die Frau, die keine Schwierigkeiten hatte, sie alle vollständig in Bann zu schlagen. An zwei solcher Nachmittage, die sie geleitet hat, erinnerst du dich mit äußerster Klarheit: Einmal habt ihr Holzkästen gebaut (zu welchem Zweck, kannst du nicht mehr sagen, aber alle waren mit Feuereifer bei der Sache), das andere Mal muss gegen Ende des Schuljahrs gewesen sein, draußen war es warm, und die ganze Bande war es längst leid, sich den Regeln und Vorschriften des Pfadfinderlebens zu unterwerfen, ihr wart zum letzten oder vorletzten Mal in eurem Haus an der Irving Avenue versammelt, und da ihr alle keine Lust mehr hattet, euch weiter wie Miniatursoldaten aufzuführen, fragte deine Mutter, wie ihr denn den Nachmittag verbringen wolltet, und als die einstimmige Antwort
Baseball spielen
lautete, seid ihr in den Garten gegangen und habt zwei Mannschaften aufgestellt. Weil ihr nur zehn oder zwölf Jungen wart, zu wenig für zwei komplette Teams, sagte deine Mutter, sie könne ja mitspielen. Das hat dich ungeheuer gefreut, aber da du sie noch nie mit einem Schläger in der Hand gesehen hattest, glaubtest du, nicht viel von ihr erwarten zu können. Als sie im zweiten Inning ans Schlagen kam und einen Ball weit über den Kopf des Leftfielders schmetterte, warst du nicht nur erfreut, sondern völlig geplättet. Noch heute siehst du deine Mutter in ihrer Höhlenmutteruniform um die Bases laufen und ihren Homerun vollenden – außer Atem, und lächelnd nimmt sie die Bravorufe der Jungen entgegen. Von allem, was dir aus deiner Kindheit geblieben ist, kommt diese Szene dir am häufigsten in den Sinn.
Vermutlich war sie nicht schön, nicht schön im klassischen Sinn, aber ziemlich hübsch, mehr als attraktiv genug, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, wenn sie einen Raum betrat. Was ihr an einer blendenden Erscheinung fehlte, an der Filmstar-Schönheit gewisser Frauen, die Filmstars sein mögen oder auch nicht, machte sie durch einen gewissen Glamour wett, den sie besonders in jungen Jahren ausstrahlte, von Ende zwanzig bis Anfang vierzig, die geheimnisvolle Mischung aus Körperhaltung, sicherem Auftreten und Eleganz, die Kleidung, die ihre Sinnlichkeit erahnen ließ, ohne offen darauf hinzuweisen, das Parfüm, das Make-up, der Schmuck, die modische Frisur und vor allem ihre verspielte, zugleich freimütige und zurückhaltende Miene,
ihre selbstbewusste Miene
, und mochte sie auch nicht die schönste Frau der Welt sein, benahm sie sich doch so, als sei sie es, und eine Frau, die das zuwege bringt, zieht unvermeidlich die Blicke auf sich, was zweifellos der Grund dafür war, dass die griesgrämigen Hausmütterchen in der Familie deines Vaters sie mit Verachtung straften, nachdem sie die Herde verlassen hatte. Natürlich waren das schwierige Zeiten, die Jahre vor dem lange hinausgeschobenen, aber unausweichlichen Bruch mit deinem Vater, die Jahre des
Bis bald, Schatz.
In diese Zeit fällt auch der Autounfall, den sie eines Nachts gebaut hat. Du warst zehn Jahre alt, und noch heute siehst du ihr blutverschmiertes, ramponiertes Gesicht, als sie am nächsten Morgen ins Haus kam, und obwohl sie dir nie viel von dem Unfall erzählt hat, nur ein paar nichtssagende Andeutungen ohne Anspruch auf Wahrheit, gehst du davon aus, dass dabei Alkohol im Spiel gewesen ist, dass sie damals eine Zeitlang zu viel getrunken hat, denn später ließ sie gelegentlich durchblicken, sie sei bei den Anonymen Alkoholikern gewesen, und Tatsache ist, dass sie danach bis ans Ende ihres Lebens keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken hat – nicht einen einzigen Cocktail, kein Glas Sekt, nichts, nicht einmal einen Schluck Bier.
Es gab sie dreimal, drei verschiedene Frauen, die nichts miteinander zu tun zu haben schienen, und als du älter wurdest und sie
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