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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mit anderen Augen zu sehen begannst, sie als eine Frau zu sehen begannst, die nicht nur deine Mutter war, konntest du nie wissen, welche Maske sie an irgendeinem Tag tragen würde. Am einen Ende war die Diva, die prächtig herausgeputzte, bezaubernde Erscheinung, die alle Welt zum Staunen brachte, die junge Frau mit dem apathischen, zerstreuten Gatten, die sich danach sehnte, von fremden Blicken verschlungen zu werden, und es satthatte, sich in die traditionelle Hausfrauenrolle drängen zu lassen. In der Mitte, bei weitem der größte Raum, den sie besetzte, war eine zuverlässige, verantwortungsbewusste Frau, die kluge und einfühlsame Frau, die für dich sorgte, als du klein warst, die Frau, die arbeiten ging, die über die Jahre hin mehrere kleine Geschäfte führte, die wunderbare Witze erzählen konnte, die jedes Kreuzworträtsel löste, eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand – patent, großzügig, eine aufmerksame Beobachterin, politisch immer liberal, eine intelligente Ratgeberin. Am anderen Ende, am äußersten Ende ihrer Persönlichkeit, war die verängstigte und schwache Neurotikerin, die hilflose Kreatur, ein Opfer überwältigender Angstattacken, die Phobikerin, deren Unzulänglichkeiten mit den Jahren immer deutlicher zutage traten – anfangs nur von Höhenangst geplagt, entwickelte sie nach und nach eine Vielzahl lähmender Ängste: Angst vor Rolltreppen, Angst vor Flugzeugen, Angst vor Aufzügen, Angst vor dem Autofahren, Angst vor Fenstern in hohen Gebäuden, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor weiten Räumen, Angst, überhaupt noch irgendwo hinzugehen (sie fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren oder in Ohnmacht zu fallen), und ein Hang zur Hypochondrie, die sich zur furchtbarsten Panik steigern konnte. Mit anderen Worten: Angst vor dem Sterben, was am Ende wohl nichts anderes besagt als: Angst vor dem Leben. Als du klein warst, hast du von all dem nichts mitbekommen. Sie schien dir perfekt, und selbst ihre ersten Schwindelanfälle, deren Zeuge du als Sechsjähriger wurdest (als ihr zwei die Innentreppe der Freiheitsstatue hinaufstiegt), beunruhigten dich nicht, denn als gute und gewissenhafte Mutter schaffte sie es, ihre Angst vor dir zu verbergen, indem sie den Abstieg zu einem Spiel machte: Sie setzte sich mit dir auf die Treppe, und dann ging es abwärts, eine Stufe nach der anderen, immer mit dem Hintern auf dem Boden, bis ihr lachend unten angekommen wart. Als sie alt war, wurde nicht mehr gelacht. Da gab es nur noch die Leere in ihrem Kopf, den Knoten in ihrem Bauch, die kalten Schweißausbrüche, die unsichtbaren Hände, die sich um ihre Kehle schlossen.
     
    Ihre zweite Ehe war ein voller Erfolg, eine Ehe, wie jeder sie sich ersehnt – bis sie es nicht mehr war. Du warst froh, sie so glücklich zu sehen, so offensichtlich verliebt, und fandest ihren neuen Mann auf Anhieb sympathisch, nicht nur, weil er in deine Mutter verliebt war und sie in jeder Hinsicht auf eine Weise zu lieben verstand, wie sie es deiner Meinung nach brauchte, sondern auch, weil er an sich schon eine imponierende Erscheinung war, ein Arbeitsrechtler mit scharfem Verstand, ein aufgeschlossener Mensch, der das Leben im Sturm zu nehmen schien, der beim Essen alte Schlager anstimmte und komische Geschichten aus seiner Vergangenheit zum Besten gab, der dich vom Fleck weg nicht als Stiefsohn, sondern wie einen jüngeren Bruder ins Herz schloss, woraus sich eine enge, dauerhafte Freundschaft entwickelte, kurz und gut, in deinen Augen war diese Ehe das Beste, was deiner Mutter jemals widerfahren war, und du glaubtest, jetzt würde endlich alles gut werden mit ihr. Schließlich war sie noch jung, noch keine vierzig, und da er zwei Jahre jünger war als sie, hattest du jeden Grund zu der Annahme, dass ihnen ein langes gemeinsames Leben beschieden sei und einer in des anderen Armen sterben würde. Aber mit der Gesundheit deines Stiefvaters stand es nicht zum Besten. Äußerlich vital und kräftig, war er mit einem schwachen Herzen gestraft, und nach einem ersten Infarkt mit Anfang dreißig bekam er gegen Ende des ersten Ehejahrs seinen zweiten schweren Anfall, und von da an lag ein dunkler Schatten auf ihrem Leben, der noch bedrohlichere Ausmaße annahm, als er ein paar Jahre später einen dritten Anfall erlitt. Deine Mutter lebte ständig in Angst, ihn zu verlieren, und du sahst mit eigenen Augen, wie die Angst sie allmählich aus dem Gleichgewicht brachte, nach und nach die Schwächen, die sie so

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