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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ein Jahrzehnt in Südkalifornien gelebt, und ihr saht euch nur noch unregelmäßig, höchstens etwa alle sechs Monate, und was du von ihr wusstest, stammte hauptsächlich aus Telefongesprächen – die auch ihren Nutzen hatten, dir aber keine Chance boten, sie in Aktion zu erleben, und folglich kam es für dich überraschend, oder vielleicht auch nicht, als sie dir nach nur achtzehn Monaten im Witwenstand erzählte, sie habe vor, wieder zu heiraten. Ein törichter Entschluss, fandest du, noch so eine überstürzte, unüberlegte Heirat, ähnlich wie 1946 mit deinem Vater, aber sie suchte jetzt keine große Liebe mehr, nur noch eine Zuflucht, einen Mann, der sich um sie kümmerte, während sie ihr zerbrechliches Ich wieder zusammenflickte. Der dritte Ehemann war ihr auf eine stille, linkische Art ergeben, was sicher nicht ganz vergebens war, aber trotz aller Bemühungen und guten Absichten konnte er sich gar nicht genug um sie kümmern. Er war ein langweiliger Mensch, Ex-Marine und ehemaliger NASA -Ingenieur, konservativ sowohl in seinen politischen Ansichten als auch in seinen Gewohnheiten, entweder unterwürfig oder schwach (vielleicht beides), also das genaue Gegenteil deines exaltierten, charismatischen, linksliberalen Stiefvaters – kein schlechter oder gefühlloser Mensch, einfach nur langweilig. Er arbeitete jetzt freiberuflich als Erfinder (von der Sorte, die es nie zu etwas bringt), aber deine Mutter setzte große Hoffnungen auf seine neueste Erfindung – einen medizinischen Infusionsapparat, tragbar und ohne Schläuche, der dem herkömmlichen Tropf Konkurrenz machen und ihn womöglich ersetzen sollte –, anscheinend also eine todsichere Sache, und so heiratete sie ihn in der Annahme, dass sie bald in Geld schwimmen würden. Keine Frage, die Erfindung war großartig, vielleicht gar genial, nur dass es dem Erfinder an Geschäftssinn mangelte. In die Zange genommen von zudringlichen Risikokapital-Anlegern und doppelzüngigen Geräteherstellern, verlor er schließlich die Kontrolle über seine Erfindung; am Ende bekam er zwar Geld dafür, aber kaum genug, um darin zu schwimmen – tatsächlich so wenig, dass binnen Jahresfrist das meiste davon aufgebraucht war. Deine Mutter, inzwischen über sechzig, sah sich gezwungen, wieder zu arbeiten. Vor einigen Jahren hatte sie sich als Raumausstatterin betätigt, und das nahm sie jetzt wieder auf, und während ihr Erfindergatte sich um Büro und Buchhaltung kümmerte, war nun sie es, die für sie beide sorgte, oder das jedenfalls versuchte, und wann immer ihr Kontostand sich der Null zu nähern drohte, rief sie dich an und bat um Hilfe, immer unter Tränen, immer kleinlaut, und da du in der Lage warst, ihr diese Hilfe zu gewähren, hast du ihr hin und wieder Schecks geschickt, ein paar große Schecks, ein paar kleine Schecks, insgesamt etwa ein Dutzend Schecks und Überweisungen innerhalb der nächsten zwei Jahre. Du hattest nichts dagegen, ihnen Geld zu schicken, fandest es aber befremdlich und mehr als ein bisschen entmutigend, dass ihr Ex-Marine offenbar endgültig die Waffen gestreckt hatte und keinen Beitrag mehr zu ihrer beider Leben leistete, dass der Mann, der ursprünglich für sie sorgen und ihr und sich ein behütetes, gutsituiertes Alter bieten wollte, nicht einmal den Mut aufbringen konnte, dir für deine Unterstützung zu danken. Deine Mutter war jetzt die Chefin, und seine Rolle als Ehemann wurde nach und nach zu der eines treuen Butlers (Frühstück ans Bett bringen, Lebensmittel einkaufen), aber noch schlugen sie sich durch, so schlimm war es nicht, es hätte schlimmer sein können, und bei aller Enttäuschung über den Lauf der Dinge wusste sie doch auch, dass etwas besser war als nichts. Dann, eines Morgens im Frühjahr 1994 , ging deine Mutter ins Bad und fand ihren Mann tot auf dem Fußboden. Schlaganfall, Herzinfarkt, Hirnblutung – du weißt es nicht, denn eine Obduktion wurde nicht durchgeführt, jedenfalls nicht dass du wüsstest. Als sie dich später an diesem Vormittag in Brooklyn anrief, war ihre Stimme voller Entsetzen. Blut, sagte sie, Blut kam ihm aus dem Mund, überall war Blut: Zum ersten Mal in all den Jahren, die du sie kanntest, hörte sie sich an wie eine Geistesgestörte.
     
    Sie beschloss, wieder in den Osten zu ziehen. Zwanzig Jahre zuvor hatte sie in Kalifornien das gelobte Land gesehen, jetzt aber war es wenig mehr als ein Ort von Krankheit und Tod, die Kapitale des Unglücks und schmerzlicher Erinnerungen, und so eilte

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