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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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lange mühsam verheimlicht hatte, ans Licht treten ließ, die Phobien, die in ihren letzten gemeinsamen Jahren mit aller Macht ausbrachen, und als er mit vierundfünfzig starb, war sie nicht mehr die Frau, die sie zu Beginn dieser Ehe gewesen war. Du erinnerst dich an ihre letzte Heldentat, den Abend in Palo Alto, Kalifornien, als sie dir und deiner Frau pausenlos Witze erzählte, während dein Stiefvater auf der Intensivstation des Stanford Medical Center einer experimentellen Herzbehandlung unterzogen wurde, letzter verzweifelter Versuch in einem Fall, den man als so gut wie aussichtslos betrachtete. Der grausige Anblick deines todkranken Stiefvaters auf jenem Bett, sein Körper mit Kabeln und Schläuchen an so viele Apparate angeschlossen, dass du dich in einen Science-Fiction-Film versetzt fühltest, und als du reinkamst und ihn dort liegen sahst, warst du so erschüttert, so aufgewühlt, dass du mit den Tränen kämpfen musstest. Es war der Sommer 1981 , du und deine Frau kanntet euch seit etwa sechs Monaten, ihr lebtet zusammen, wart aber noch nicht verheiratet, und als ihr zwei am Bett deines Stiefvaters standet, nahm er eure Hände in seine und sagte: «Verschwendet keine Zeit. Heiratet jetzt. Heiratet, sorgt füreinander und bekommt zwölf Kinder.» Du und deine Frau wohntet bei deiner Mutter in einem Haus irgendwo in Palo Alto, in einem leeren Haus, das ihr ein unbekannter Freund zur Verfügung gestellt hatte, und an diesem Abend, nach dem Essen in einem Restaurant, wo du, als die Kellnerin zurückkam und sagte, die Küche könne das von dir bestellte Gericht leider nicht mehr zubereiten, ein zweites Mal beinahe zusammengebrochen wärst (eine ausgesprochene Übersprungsreaktion – ja, man könnte behaupten, die absurden Tränen, die dir in diesem Moment in die Augen stiegen, seien geradezu die Verkörperung unterdrückter Emotionen gewesen, die sich nicht länger unterdrücken ließen), und nachdem ihr drei in das Haus zurückgekehrt wart, in dieses vom Schatten des Todes verdüsterte Haus, alle überzeugt, dass dein Stiefvater bestenfalls noch wenige Tage zu leben hatte, setztet ihr euch an den Esszimmertisch, um etwas zu trinken, und gerade als du dachtest, keiner von euch würde noch ein Wort über die Lippen bringen, als die Schwermut in euren Herzen euch aller Worte beraubt zu haben schien, fing deine Mutter an, Witze zu erzählen. Einen Witz und noch einen Witz, und noch einen und noch einen, und alle so komisch, dass du und deine Frau lachtet, bis ihr nicht mehr konntet, eine Stunde lang Witze, zwei Stunden lang Witze, und jeder einzelne mit solcher Treffsicherheit und Lakonie vorgetragen, dass du bald glaubtest, dir müsse der Magen platzen. Hauptsächlich jüdische Witze, das ganze klassische Yenta-Repertoire einschließlich verteilter Stimmen und Akzente, alte Jüdinnen am Kartentisch, eine nach der anderen stößt einen Seufzer aus, eine lauter als die andere, bis schließlich eine von ihnen sagt: «Ich dachte, wir waren uns einig, nicht über die Kinder zu reden.» Ihr alle seid an diesem Abend ein wenig ausgeflippt, aber die Situation war so schlimm, so unerträglich, dass ihr einfach ein wenig ausflippen musstet, und irgendwie hatte deine Mutter die Kraft aufgebracht, das zuzulassen. Welch außerordentliche Tapferkeit, fandest du, welch grandioses Beispiel dafür, was für eine Frau sie sein konnte – denn so groß dein Unglück an diesem Abend auch sein mochte, du wusstest, es war nichts, absolut nichts im Vergleich zu ihrem.
     
    Er überlebte das Stanford Medical Center und kam wieder nach Hause, aber kein Jahr später war er tot. Du glaubst, dann starb auch sie. Ihr Herz schlug noch zwanzig Jahre lang weiter, aber der Tod deines Stiefvaters war ihr Ende, danach hat sie keinen Halt mehr gefunden. Nach und nach verwandelte sich ihr Schmerz in eine Art Groll
(Wie konnte er sich unterstehen, zu sterben und mich alleinzulassen?)
, und so weh es dir tat, sie so reden zu hören, verstandest du doch, dass sie Angst hatte, dass sie nach einer Möglichkeit suchte, den nächsten Schritt zu wagen und sich weiter in die Zukunft zu schleppen. Sie hasste es, allein zu leben, war ihrem Wesen nach nicht dafür gerüstet, in einem Vakuum der Einsamkeit zu überleben, und so dauerte es nicht lange, bis sie sich wieder unter die Leute begab, inzwischen recht beleibt, stark übergewichtig, aber immer noch attraktiv genug, die Blicke etlicher älterer Herren auf sich zu ziehen. Sie hatte jetzt länger als

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