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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sie versuchte gar nicht erst, dich eines Besseren zu belehren. Dann zog deine Familie in das Haus an der Irving Avenue, und als du im September darauf in die Vorschule kamst, warst du bereit und kein bisschen beunruhigt von der Aussicht, täglich eine Zeitlang fern von deiner Mutter verbringen zu müssen. Du erinnerst dich an den chaotischen Auftakt am ersten Morgen, wie die Kinder kreischten und heulten, als ihre Mütter sich von ihnen verabschiedeten, wie die Angstschreie der Verlassenen von den Wänden hallten, während du gleichmütig deiner Mutter winktest und das Theater um dich her gar nicht verstehen konntest, denn dir war es eine Freude, dort zu sein, du kamst dir jetzt wie ein Großer vor. Du warst fünf Jahre alt, und schon zog es dich fort, du lebtest nicht mehr ausschließlich im Bannkreis deiner Mutter. Besserer Gesundheitszustand, neue Freunde, die Freiheit des Gartens hinterm Haus, der Beginn eines selbständigen Lebens. Natürlich hast du noch ins Bett gemacht, noch hast du geweint, wenn du hingefallen bist und dir das Knie aufgeschlagen hast, aber der innere Dialog hatte angefangen, du warst ins Reich bewusster Individualität eingetreten. Dein Vater war meistens auf Arbeit, und war er einmal zu Hause, pflegte er lange Nickerchen zu halten, mit anderen Worten, er war selten verfügbar, und es blieb weiter deiner Mutter überlassen, Autorität auszuüben und dir in allem, was wichtig war, Auskunft zu geben. Sie war es, die dich ins Bett brachte, sie war es, die dich das Radfahren lehrte, sie war es, die dir beim Klavierüben half, sie war es, der du dein Herz ausschütten konntest, sie war der Fels, an den du dich klammern konntest, wann immer die See hohe Wellen schlug. Aber du bekamst allmählich einen eigenen Kopf, du hingst nicht mehr pausenlos an ihren Lippen. Die Übungen am Klavier waren dir verhasst, du wolltest lieber draußen mit deinen Freunden spielen, und als du ihr sagtest, dass du aufhören möchtest, Baseball sei dir sehr viel wichtiger als Musik, gab sie ohne viel Federlesens nach. Oder beim Thema Kleidung. Gewöhnlich liefst du in T-Shirt und Jeans herum, aber zu besonderen Anlässen – Feiertage, Geburtstagspartys, Besuche bei deinen Großeltern in New York – bestand sie darauf, dich in feine Sachen zu stecken, Kleidung, die dir mit sechs allmählich peinlich wurde, besonders die Kombination aus weißem Hemd und kurzer Hose, Kniestrümpfen und Sandalen, und als du anfingst, dagegen aufzubegehren, und ihr sagtest, du kämst dir in diesen Sachen lächerlich vor, du möchtest aussehen wie alle anderen amerikanischen Jungen, lenkte sie schließlich ein und erlaubte dir, bei der Wahl deiner Kleidung ein Wörtchen mitzureden. Aber auch sie entfernte sich inzwischen von dir, und nicht lange nach deinem sechsten Geburtstag trat sie in die Arbeitswelt ein, und du sahst sie immer seltener. Du erinnerst dich nicht, dass du das bedauert hättest, aber andererseits, was weißt du schon von deinen Gefühlen damals? Vergiss nie, dass du so gut wie gar nichts weißt – und absolut nichts über den Zustand ihrer Ehe, das Ausmaß ihrer Unzufriedenheit mit deinem Vater. Jahre später hat sie dir erzählt, sie habe ihn zu überreden versucht, nach Kalifornien zu ziehen, weg von seiner Familie, das sei ihre einzige Hoffnung für sie gewesen, weg von der erdrückenden Gegenwart seiner Mutter und seiner älteren Brüder, und als er nichts davon hören wollte, habe sie sich damit abgefunden, eine hoffnungslose Ehe führen zu müssen. Die Kinder waren zu klein, an Scheidung war nicht zu denken (nicht damals, nicht dort, nicht im bürgerlichen Amerika Anfang der Fünfziger), also fand sie eine andere Lösung. Sie war erst achtundzwanzig, und Arbeit öffnete ihr die Tür, ließ sie aus dem Haus und gab ihr die Chance, sich ein eigenes Leben aufzubauen.
     
    Du willst damit nicht andeuten, dass sie verschwand. Sie war einfach weniger anwesend als zuvor, sehr viel weniger anwesend, und wenngleich sich die meisten Erinnerungen aus dieser Zeit auf die kleine Welt deiner kindlichen Unternehmungen beschränken (mit deinen Freunden herumlaufen, Fahrrad fahren, zur Schule gehen, Sport treiben, Briefmarken und Baseballkarten sammeln, Comics lesen), tritt deine Mutter doch mehrmals recht deutlich auf, besonders nachdem du als Achtjähriger mit einem Dutzend Freunde zu den Pfadfindern gegangen warst. Du kannst dich nicht mehr erinnern, wie oft die Treffen stattfanden, aber du vermutest, es war einmal im Monat,

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