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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Schriftstellers zuträglich ist, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was die Leute über einen sagen.) Die Fahrt mit dem TGV von Avignon ist ein wenig anstrengend, hauptsächlich weil deine Tochter von dem Hochgeschwindigkeitszug so beeindruckt ist, dass sie weder still sitzen noch schlafen kann, weshalb du den Großteil der drei Stunden mit ihr auf dem Gang auf und ab gehen musst und reichlich geschafft bist, als ihr endlich die Gare de Lyon erreicht. Der Bahnhof ist schwarz von Menschen, ungeheure Massen von Reisenden strömen in alle Richtungen, und ihr müsst euch buchstäblich zum Ausgang durchkämpfen, deine Frau mit dem Baby auf den Armen und du vollauf beschäftigt mit euren drei großen Koffern – kein Kinderspiel, wenn man nur zwei Hände hat. Zusätzlich hast du eine Leinwandtasche über der Schulter, in der sich die ersten fünfundsiebzig Seiten deines neuen Romans befinden, und als du dein Exemplar von
Le Monde
erworben hast, kommt das auch noch in diese Tasche. Natürlich willst du den Artikel lesen, aber nachdem du dich davon überzeugt hast, dass er tatsächlich in dieser Ausgabe steht, hast du sie eingesteckt, um nachher, wenn du in der Warteschlange für ein Taxi stehst, einen Blick hineinzuwerfen. Kaum jedoch seid ihr drei durch den Ausgang ins Freie gelangt, musst du feststellen, dass es keine Warteschlange gibt. Vor dem Bahnhof stehen Taxis, und es stehen Leute da, die auf diese Taxis warten, aber es gibt keine Schlange. Eine unübersehbare Masse, und anders als die Engländer, die, sobald mehr als drei von ihnen beieinander sind, gewohnheitsmäßig eine Schlange bilden und dann geduldig warten, bis sie an die Reihe kommen – oder selbst die Amerikaner, die das etwas lässiger angehen, aber stets mit einem angeborenen Sinn für Gerechtigkeit und Fairplay –, werden die Franzosen zu quengeligen Kindern, wann immer zu viele von ihnen in einem beschränkten Raum zusammenkommen, und statt gemeinsam zu versuchen, ein wenig Ordnung in die Verhältnisse zu bringen, ist sich plötzlich nur noch jeder selbst der Nächste. Das Inferno vor der Gare de Lyon an jenem Tag erinnert dich an gewisse Nachrichtenbilder, die du von der New Yorker Börse kennst: Schwarzer Dienstag, Schwarzer Freitag, die internationalen Märkte brechen zusammen, die Welt liegt in Trümmern, und in diesem Börsensaal schreien sich tausend Männer wie von Sinnen die Lunge aus dem Hals, jeder einzelne von ihnen kurz vorm Herzinfarkt. Nicht anders ist die Menge, in die du an jenem 1 . September vor zweiundzwanzigeinhalb Jahren geraten bist: ein entfesselter Mob, und niemand sorgt für Ordnung, und da bist du, nur einen Steinwurf entfernt von dort, wo einst die Bastille gestanden hatte, die zweihundert Jahre zuvor von einem nicht weniger wilden Pöbelhaufen erstürmt worden war, nur dass jetzt keine Revolution in der Luft liegt, dass die Leute nicht nach Brot oder Freiheit verlangen, sondern nach Taxis, und da die vorhandenen Taxis nicht einmal ein Fünfzigstel des Bedarfs zu decken vermögen, schäumen die Leute, brüllen und sind bereit, einander in Stücke zu reißen. Deine Frau ist ganz ruhig, das weißt du noch, und sieht sich das Spektakel belustigt an, und selbst deine kleine Tochter ist ruhig und nimmt das alles mit großen neugierigen Augen in sich auf, du hingegen gerätst in Rage, auf Reisen hast du dich schon immer von deiner schlechtesten Seite gezeigt, nervös und reizbar und nie ganz du selbst, und mehr als alles andere hasst du es, in einer chaotischen Menge eingekeilt zu sein, und weil du nach Lage der Dinge zu dem Schluss kommst, dass ihr drei mindestens eine oder zwei Stunden würdet warten müssen, bis ihr ein Taxi gefunden hättet, vielleicht sechs Stunden, vielleicht hundert Stunden, sagst du zu deiner Frau, dass es vielleicht keine schlechte Idee wäre, anderswo nach einem Taxi zu suchen. Du zeigst auf einen anderen Taxistand, ein paar hundert Meter den Hügel hinunter. «Und was ist mit dem Gepäck?», sagt sie. «Das schaffst du nie, die drei schweren Koffer da hinzuschleppen.» – «Keine Sorge», sagst du. «Das geht schon.» Selbstredend geht es nicht, oder nur gerade eben so, und nachdem du mit diesen Monstern zwanzig oder dreißig Meter weit gekommen bist, musst du einsehen, dass du deine Kräfte erheblich überschätzt hast, doch inzwischen wäre es töricht, wieder umzukehren, also mühst du dich weiter, bleibst alle zehn Sekunden stehen, um die Last neu zu ordnen, die zwei Koffer und den einen Koffer

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